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Die Mumie

Die Mumie

Titel: Die Mumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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mit einer anmutigen raschen Geste vom Boden aufhob. Nur Julie und Henry sahen es, sonst niemand. Ramses sah Henry vielsagend an und steckte das Taschentuch in die Tasche seines Morgenmantels.
    Randolph blickte vollkommen verwirrt drein. Einer der Männer von Scotland Yard schien absolut gelangweilt.
    »Dir geht es gut, meine Liebste!« sagte Randolph. »Du bist sicher.«
    »O ja, das bin ich.« Sie ging zu ihm hin, nahm seinen Arm und führte ihn zur Tür. Die Männer von Scotland Yard folgten.
    »Ich bin Inspektor Trent, Madam«, sagte der Gesprächige.
    »Und das ist Sergeant Galton, mein Partner. Rufen Sie uns, wenn Sie uns brauchen.«
    »Ja, gewiß«, sagte sie. Henry schien kurz davor zu explodieren. Plötzlich stürmte er los. Er hätte sie beinahe umgerem-pelt, als er zur offenen Tür hinausstürmte in die Menge, die sich auf den Stufen versammelt hatte.
    »War es die Mumie, Sir?« rief jemand. »Lebt die Mumie?«
    »War es der Fluch?«
    »Miss Stratford, sind Sie unverletzt?«
    Die Männer vom Scotland Yard gingen hinaus. Inspektor Trent befahl der Menge weiterzugehen.
    »Herrje, was ist nur in ihn gefahren!« murmelte Randolph. »Ich begreife das alles nicht.«

    Julie hielt seinen Arm fest umklammert. Nein, er konnte un-möglich wissen, was Henry getan hatte. Er hätte nie etwas getan, um Vater zu schaden, gewiß nicht. Aber wie konnte sie so sicher sein? Ganz impulsiv küßte sie ihn. Sie küßte ihn auf die Wange.
    »Keine Bange, Onkel Randolph«, sagte sie den Tränen nahe.
    Randolph schüttelte den Kopf. Er war gedemütigt worden, hatte sogar ein wenig Angst. Er tat ihr leid, als sie ihm nachsah.
    Er dauerte sie mehr als sie jemals irgend jemand gedauert hatte. Sie dachte erst daran, daß er barfuß war, als er schon ein Stück gegangen war. Die Reporter folgten ihm. Als die Männer von Scotland Yard wegfuhren, kamen einige der Reporter zurück. Sie schlug hastig die Tür zu. Durch die Glasscheibe sah sie, wie ihr Onkel die Treppe seines eigenen Hauses hinaufging.
    Dann drehte sie sich langsam um und ging wieder in das vordere Zimmer.
    Stille. Der leise Singsang des Springbrunnens im Wintergarten. Draußen auf der Straße hörte sie ein Pferd in raschem Trab. Rita stand zitternd in einer Ecke, ihre Schürze hatte sie mit fiebrig werkelnden Händen zu einem Knoten zusammengeknüllt.
    Und Ramses reglos in der Mitte des Zimmers. Er stand mit verschränkten Armen da und sah sie an. Mit leicht gespreizten Beinen, genau wie vorher. Die Sonne schien auf seinen Rükken, sein Gesicht lag im Schatten. Das tiefe Leuchten seiner Augen war fast ebenso irritierend wie der Glanz seines dichten Haars.
    Zum ersten Mal begriff sie die wahre Bedeutung des Wortes königlich. Und noch ein Wort fiel ihr ein, ungebräuchlich zwar, wenn auch passend. Er war anmutig. Und sie überlegte sich, daß sein Gesichtsausdruck nicht wenig zu seiner Schönheit beitrug. Er wirkte klug und neugierig und gleichzeitig beherrscht. Überirdisch, und doch völlig normal. Erhabener als ein Mensch und trotzdem menschlich.
    Er sah sie nur an. Die tiefen Falten des langen, schweren Sa-tinmorgenmantels bewegten sich fast unmerklich in der Luft.
    »Rita, lassen Sie uns allein«, flüsterte sie.

    »Aber Miss…«
    »Gehen Sie.«
    Wieder Stille. Dann kam er auf sie zu. Keine Spur von einem Lächeln, nur sanfter Ernst. Die Augen wurden ein wenig grö-
    ßer, als er ihr Gesicht studierte, ihr Haar, ihr Kleid.
    Wie mußte dieser luftige Spitzenmorgenmantel auf ihn wirken?
    fragte sie sich plötzlich. Großer Gott, dachte er etwa, daß die Frauen heutzutage so etwas im Haus und auf der Straße tragen? Aber er hatte keinen Blick für die Spitzen. Er bewunderte die Form ihrer Brüste unter der weiten Seide, die Umrisse ihrer Hüften. Er sah ihr wieder ins Gesicht, und sein Ausdruck ließ keine Mißdeutung zu. Leidenschaft stand in seinen Augen. Er kam näher und griff nach ihren Schultern, sie spürte seine warmen Finger auf ihrer Haut.
    »Nein«, sagte sie.
    Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf und wich zurück. Sie reckte die Schultern und versuchte, sich weder ihre Furcht noch das plötzliche köstliche Kribbeln einzugestehen, das ihr über den Rücken und die Arme lief. »Nein«, sagte sie noch einmal mit einem leichten Unterton von Mißfallen.
    Sie hatte Angst. Die Wärme in ihren Brüsten überraschte sie.
    Jetzt nickte er und wich zurück und lächelte. Seine Hände formten sich zu einer kleinen offenen Geste. Er sprach leise auf lateinisch. Sie

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