Die Mumie
Warmes. Er trat wieder näher und schnitt an der äußeren Bandage. Hinter ihm befahl Samir den Fotografen, den Durchgang zu räumen. Es bestand die Gefahr, daß die Mumie verseucht war. Ja, geht, alle, bitte.
Plötzlich streckte er die Hand aus und berührte die Mumie; er berührte sie ehrfürchtig nur mit den Fingerspitzen. Sie war seltsam fest. Die dicken Stoffschichten hätten doch sicher mit der Zeit weich werden müssen.
Wieder betrachtete er das schmale Gesicht vor sich, die runden Lider, den ernsten Mund.
»Julie«, flüsterte er. »O mein Liebling, wenn du das nur sehen könntest…«
Der Botschaftsball. Dieselben alten Gesichter, dasselbe alte Orchester, derselbe alte heitere und doch dröhnende Walzer.
Elliott Savarell fand die Lichter zu grell, und der Champagner war zu sauer für seinen Geschmack. Dennoch stürzte er das Glas verächtlich hinunter und winkte einen vorüberhuschen-den Kellner herbei. Ja, noch einen. Und noch einen. Wenn es nur guter Brandy oder Whiskey wäre.
Aber sie wollten ihn hier haben, oder nicht? Ohne den Earl of Rutherford würde etwas fehlen. Der Earl of Rutherford war ein notwendiges Beiwerk, ebenso wie die üppigen Blumengestek-ke, die zahllosen Kerzen, der Kaviar und das Tafelsilber und die alten Musiker, die müde auf ihren Geigen sägten, während die jüngere Generation tanzte.
Alle hatten einen Gruß für den Earl of Rutherford übrig. Alle wollten, daß der Earl of Rutherford an der Hochzeit einer Tochter, einem Teenachmittag oder einem Ball wie diesem teilnahm. Niemand kümmerte sich darum, daß Elliott und seine Frau kaum noch Besuch empfingen, weder in ihrem Haus in London noch auf dem Landsitz in Yorkshire – oder daß Edith inzwischen den größten Teil ihrer Zeit bei einer verwitweten Schwester in Paris verbrachte. Der siebzehnte Earl of Rutherford war der gefragte Artikel. Der Stammbaum der Familie reichte auf jeden Fall bis zu Heinrich VIII. zurück.
Warum hatte er nicht schon vor langer Zeit alles ruiniert, fragte sich Elliott. Wie war es ihm nur gelungen, so viele Menschen für sich einzunehmen, für die er bestenfalls flüchtiges Interesse hatte?
Aber nein, das stimmte nicht ganz. Einige dieser Menschen hatte er gern, das mußte er zugeben. Er mochte seinen alten Freund Randolph Stratford und Randolphs Bruder Lawrence.
Und er mochte Julie Stratford und sah sie gern mit seinem Sohn tanzen. Elliott war nur seines Sohnes wegen hier. Natürlich würde Julie Alex nicht heiraten. Jedenfalls nicht so bald.
Aber sie war die einzige Hoffnung für Alex, an das Geld zu kommen, das er brauchte, um die Ländereien zu unterhalten, die er erben würde; der Reichtum, der angeblich zu einem alten Titel gehörte, war heutzutage leider die Ausnahme.
Das Traurige war, daß Alex Julie liebte. Das Geld bedeutete im Grunde genommen beiden nichts. Die ältere Generation übernahm das Planen und Ränkeschmieden, wie zu allen Zeiten.
Elliott lehnte sich an das vergoldete Geländer und sah hinab auf die jungen Paare, die sich unter ihm im Tanz drehten, und einen Augenblick versuchte er, den Lärm der Stimmen zu verdrängen und nur die lieblichen Klänge des Walzers zu hören.
Aber Randolph Stratford redete wieder. Randolph versicherte Elliott, daß Julie nur noch ein bißchen gutes Zureden brauchte. Wenn Lawrence seine Zustimmung geben würde, würde seine Tochter einwilligen.
»Gib Henry eine Chance«, sagte Randolph wieder. »Er ist erst seit einer Woche in Ägypten. Wenn Lawrence die Initiative er-greift…«
»Aber warum«, sagte Elliott, »sollte Lawrence das tun?«
Schweigen.
Elliott kannte Lawrence besser, als Randolph ihn kannte. Elliott und Lawrence. Niemand außer den beiden Männern selbst kannte die ganze Geschichte. Sie waren in Oxford, in einer sorglosen Welt, Liebende gewesen, und nach ihrem Abschluß hatten sie zusammen den Winter auf einem Hausboot südlich von Kairo auf dem Nil verbracht. Die Umstände hatten sie zwangsläufig getrennt. Elliott hatte Edith Christian geheiratet, eine reiche amerikanische Erbin. Lawrence hatte aus Stratford Shipping ein Imperium gemacht.
Aber ihre Freundschaft war geblieben. Sie hatten zahllose Ferien miteinander in Ägypten verbracht. Sie konnten immer noch ganze Nächte über Geschichte, Ruinen, archäologische Entdeckungen oder Dichtung diskutieren. Elliott war der einzige gewesen, der seinerzeit verstanden hatte, warum Lawrence sich von den Geschäften zurückgezogen hatte und nach Ägypten gegangen war. Elliott
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