Die Muschelsucher
verdorben.«
»Das kann man wohl eher von dir sagen«, zischte sie. Er drehte ihr den Rücken und eilte nach oben, um seine Sachen zu holen. Entschlossen, ihre Würde zu wahren, ihre verletzten Gefühle zu verbergen und keinen Gesichtsverlust einzugestehen, blieb sie in ihrem Sessel sitzen und wartete darauf, daß er zurückkam. Sie füllte die Zeit damit, daß sie ihr Aussehen prüfte, sich kämmte, ihr gerötetes und fleckiges Gesicht frisch puderte und ihre Lippen nachzog. Sie war völlig außer Fassung und sehnte sich danach, hier fortzukommen, aber sie hatte nicht den Mut, alleine zu gehen. Ihre Mutter hatte sie immer herrisch und ungerecht behandelt, und sie war fest entschlossen, dieses Haus zu verlassen, ohne sich auf irgendeine Weise zu entschuldigen. Wofür sollte sie sich auch entschuldigen? Es war Mutter gewesen, die sich unmöglich benommen hatte. Mutter hatte all diese unverzeihlichen Dinge gesagt. Als sie Noel die Treppe herunterkommen hörte, klappte sie ihre Puderdose zu, steckte sie in die Handtasche und ging zur Küche. Die Spülmaschine rauschte, und Penelope stand mit dem Rücken zu ihr am Spülbecken und scheuerte Töpfe. »So, wir gehen jetzt«, sagte Noel.
Ihre Mutter stellte die Kasserolle hin, die sie gerade in der Hand gehabt hatte, schüttelte ihre Hände trocken und drehte sich zu ihnen um. Ihre Schürze und ihre geröteten Hände taten ihrer natürlichen Würde keinen Abbruch, und Nancy erinnerte sich, daß ihre seltenen Zornesausbrüche nie länger als wenige Augenblicke gedauert hatten. Sie war nie nachtragend gewesen, nicht einmal beleidigt. Jetzt lächelte sie sogar, aber es war ein sonderbares Lächeln. Als hätte sie Mitleid mit ihnen.
Sie sagte: »Es war sehr nett von euch, daß ihr gekommen seid«, und es klang so, als ob sie es wirklich meinte. »Und vielen Dank für all die Arbeit, Noel. Du hast mir sehr geholfen.«
»Keine Ursache.«
Sie griff nach einem Handtuch und trocknete sich die Hände ab. Sie verließen die Küche und gingen alle drei zur Vordertür hinaus, wo die beiden Wagen auf dem geschwungenen Kiesweg warteten. Noel verstaute seine Reisetasche auf dem Rücksitz des Jaguars, setzte sich ans Steuer und sauste mit einem kurzen Winken durch das Tor, um in Richtung London zu verschwinden. Er hatte keiner von ihnen auf Wiedersehen gesagt, doch weder Mutter noch Tochter machten eine Bemerkung darüber.
Statt dessen ging Nancy wortlos zu ihrem Wagen, stieg ein, schnallte sich an und streifte ihre Schweinslederhandschuhe über. Penelope stand da und beobachtete die Vorbereitungen zur Abfahrt. Nancy spürte, daß der Blick ihrer Mutter auf ihr ruhte, spürte, wie ihr das Rot vom Hals in die Wangen stieg. Penelope sagte: »Paß auf dich auf, Nancy. Fahr vorsichtig.«
»Das tue ich immer.«
»Aber besonders jetzt. wo du aufgeregt bist.« Nancy, die den Blick auf das Steuer gerichtet hielt, merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Natürlich bin ich aufgeregt. Nichts nimmt mich so sehr mit wie Streit in der Familie.«
»Ein Familienstreit ist wie ein Autounfall. Jede Familie denkt: ›Uns könnte das nicht passieren‹, aber es passiert trotzdem in allen Familien irgendwann mal. Man kann es nur vermeiden, wenn man sehr umsichtig ist und das Wohl der anderen im Auge hat.«
»Aber wir haben dein Wohl im Auge. Wir wollen nur dein Bestes.«
»Nein, Nancy, das stimmt nicht. Ihr wollt, daß ich tue, was ihr möchtet - daß ich die Bilder meines Vaters verkaufe und euch das Geld gebe, ehe ich sterbe. Aber ich werde die Bilder verkaufen, wann ich es für richtig halte. Und ich werde noch nicht sterben. Ich gedenke noch viele Jahre zu leben.« Sie trat zurück. »Und nun fahr.« Nancy wischte sich die dummen Tränen aus den Augen, ließ den Motor an, legte den ersten Gang ein und löste die Handbremse. »Und vergiß nicht, George von mir zu grüßen.«
Sie war fort. Noch lange, nachdem die wohltuende Wärme des schönen Frühlingsnachmittags das Motorengeräusch verschluckt hatte, stand Penelope vor der offenen Haustür auf dem Kiesweg. Als sie nach unten blickte, sah sie ein Kreuzkraut, das sich zwischen den kleinen Steinen einen Weg nach oben bahnte. Sie bückte sich und riß es aus, warf es fort und drehte sich um, um ins Haus zu gehen.
Sie war allein. Gesegneter Friede. Die Töpfe konnten warten. Sie ging durch die Küche ins Wohnzimmer. Da es gegen Abend abkühlen würde, riß sie ein Zündholz an und machte Feuer. Sie kniete vor dem Kamin, bis die Flammen
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