Die Muschelsucher
fühlte sie sich endlich berechtigt, an sich, ihre beiden Söhne und ihre eigene Zukunft zu denken. Sie traf ihre Entscheidung. Binnen zwei Monate war sie Mrs. Ernie Penberth geworden und verließ Carn Cottage für immer. Ernies Vater war kürzlich gestorben, und die alte Mrs. Penberth zog zu ihrer Schwester, so daß Doris und Ernie das Haus für sich hatten. Ernie übernahm das Gemüsegeschäft, und er nahm Doris’ Söhne wie seine eigenen an, aber er und Doris hatten nie eigene Kinder bekommen. Und nun. Penelope blieb stehen und sah in die Runde, um sich zu orientieren. Der Nordstrand war ganz in der Nähe. Sie spürte den Wind und konnte den salzigen Hauch riechen. Sie bog um die letzte Ecke und ging langsam die steil abfallende Gasse hinunter, an deren Ende das kleine weiße Haus stand, das durch einen schmalen, kopfsteingepflasterten Vorplatz von der Straße getrennt war. Wäsche flatterte an einer Leine, und ringsum standen Töpfe und andere Behälter mit blühenden Narzissen, Krokussen, blauen Hyazinthen und Kriechpflanzen. Sie ging über den kleinen Hof, duckte sich, um nicht an die Leine zu stoßen, und hob die Hand, um an die blau lackierte Haustür zu klopfen. Ehe sie es jedoch tun konnte, wurde die Tür geöffnet, und Doris stand vor ihr.
Doris. Proper und modisch angezogen, adrett und strahlend wie eh und je, nicht dicker und nicht dünner. Ihr kurzes, lockiges Haar war silbrig weiß, und sie hatte natürlich Falten im Gesicht bekommen, aber das Lächeln hatte sich kein bißchen verändert und die Stimme auch nicht.
»Ich hab auf dich gewartet. Ich hab dich vom Küchenfenster aus beobachtet.« Sie hätte erst heute aus Hackney kommen können. »Du hast schrecklich lange gebraucht. Ich habe seit vierzig Jahren darauf gewartet.« Doris. Frisch geschminkte Lippen und Ohrringe und eine tiefrote Strickjacke über einer weißen Rüschenbluse. »Um Gottes willen, bleib nicht da auf der Schwelle stehen, komm rein.«
Penelope ging hinein und fand sich in der winzigen Küche. Sie legte die Blumen auf den Tisch und stellte die Tüte mit der Whiskyflasche daneben, und Doris machte die Tür zu. Sie drehte sich um. Sie sahen sich an, lächelten verlegen, wußten nicht, was sie sagen sollten. Und dann wurde aus dem Lächeln ein Lachen, und sie fielen sich in die Arme und hielten sich umschlungen wie zwei Schulmädchen, die nach langen Ferien wieder vereint sind.
Immer noch lachend, immer noch wortlos lösten sie sich voneinander. Doris redete als erste. »Penelope, ich kann es nicht fassen«, sagte sie. »Ich dachte, ich würde dich vielleicht nicht wiedererkennen. Aber du bist noch genauso groß und schön wie früher. Ich hatte solche Angst, daß du dich verändert hättest, aber du bist kein bißchen.«
»Natürlich bin ich. Ich habe graue Haare und bin eine alte Frau.«
»Wenn du eine alte Frau bist, stehe ich mit einem Fuß im Grab. Ich gehe nämlich auf die Siebzig zu. Das sagt Ernie wenigstens immer, wenn ich zu übermütig werde.«
»Wo ist er?«
»Er dachte, wir würden vielleicht zuerst lieber ein bißchen allein sein. Sagte, so was könne er nicht aushalten. Er ist zu seinem Schrebergarten gegangen. Er ist sein ein und alles, seit er den Laden aufgegeben hat. Ich hab zu ihm gesagt, wenn man dir deine Karotten und weißen Rüben wegnimmt, kriegst du Entzugserscheinungen.« Sie stimmte ihr lautes, ansteckendes Lachen an. Penelope sagte: »Ich habe dir ein paar Blumen mitgebracht.«
»Sie sind wunderschön. Aber das war doch nicht nötig gewesen. Hör zu, ich stell sie schnell in eine Vase, und du gehst ins Wohnzimmer und machst es dir bequem. Ich hab schon Wasser aufgesetzt, ich dachte, du würdest eine Tasse Tee gebrauchen können.« Das Wohnzimmer grenzte unmittelbar an die Küche, und sie ging durch die offene Tür hinein. Es war wie ein Schritt in die Vergangenheit, noch genauso gemütlich und vollgestellt, wie sie es von ihren Besuchen bei der alten Mrs. Penberth her in Erinnerung hatte, und die Schätze der alten Dame waren immer noch da. Sie sah das Lüsterporzellan in der Vitrine, die Staffordshire-Hunde am Kamin, das schwere Sofa und die Sessel mit den spitzenumrandeten Lehnenschonern. Einiges hatte sich jedoch geändert. Der große Fernsehapparat war ebenso neu wie die buntgemusterten Chintzvorhänge, und über dem Kamin, dort, wo früher eine stark vorgrößerte Sepia-Aufnahme von Mrs. Penberths Bruder, einem im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten, den Ehrenplatz eingenommen hatte, hing
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