Die Muschelsucher
alles, und hab keine Angst. Du darfst nie Angst davor haben, offen und ehrlich zu sein.«
»Ich werde es versuchen.«
»Gute Nacht, Liebling.«
»Gute Nacht.«
Als Penelope erwachte, war wieder ein strahlender, wolkenloser Morgen angebrochen, und sie hörte erneut die wohltuenden vertrauten Geräusche, das leise Rauschen der Wellen, die sich unten am Strand brachen, die fernen Schreie der Möwen und das Gezeter einer Drossel, die sich vor ihrem Fenster über irgend etwas aufregte. Ein Wagen kam die Zufahrt hoch und hielt auf dem Kies, und ein Mann pfiff vor sich hin.
Es war zehn nach acht. Sie hatte zwölf Stunden geschlafen, geschlagene zwölf Stunden. Sie fühlte sich ausgeruht, voll frischer Energie, und sie hatte einen Bärenhunger. Es war Dienstag. Der letzte Ferientag. Der Gedanke machte sie ein bißchen ärgerlich. Morgen früh mußten sie packen und die lange Heimfahrt nach Gloucestershire antreten. Sie fühlte plötzlich eine innere Eile, einen egoistischen Zwang, weil es noch eine ganze Reihe von Dingen gab, die sie sich vorgenommen und noch nicht erledigt hatte. Sie lag da und stellte in ihrem Kopf eine Liste zusammen, bei der ausnahmsweise ihre eigenen Prioritäten an erster Stelle kamen. Danus, Antonia und die Zwickmühle, in der sie steckten, mußten einstweilen warten. An deren Probleme würde sie später denken. Mit denen würde sie später reden. Im Augenblick durfte ihre Zeit niemandem außer ihr gehören.
Sie stand auf, badete, richtete sich das Haar und zog sich an. Dann setzte sie sich, frisch und sauber und duftend in ihrem Morgenkleid, an den Sekretär und schrieb auf einem der teuer wirkenden, prägegedruckten Briefbögen des Hotels an Olivia. Es war kein langer Brief, eher eine lapidare Mitteilung, die Olivia davon in Kenntnis setzte, daß sie Antonia die Ohrringe von Tante Ethel geschenkt hatte. Es war aus irgendeinem Grund wichtig, daß Olivia davon erfuhr. Sie faltete den Bogen, steckte ihn in den Umschlag, schrieb die Adresse, klebte eine Briefmarke drauf und verschloß ihn. Dann nahm sie ihre Handtasche und den Schlüssel und ging nach unten.
Im Foyer war niemand von den Gästen, und die Drehtür war aufgeklappt, so daß die kühle Luft und die Gerüche des Morgens ungehindert ins Gebäude drangen. Sie sah nur den Hoteldiener, der an seinem kleinen Tresen stand, und eine Frau in einem blauen Overall, die den Teppich saugte. Sie sagte den beiden guten Morgen, gab den Brief ab und ging in den leeren Speisesaal, um das Frühstück zu bestellen. Apfelsinensaft, zwei gekochte Eier, Toast und Marmelade, schwarzen Kaffee. Als sie zu Ende gefrühstückt hatte, waren erst zwei oder drei andere Gäste erschienen, um ihren Platz einzunehmen, die Zeitung aufzuschlagen und Pläne für den Tag zu schmieden. Sie hörte, wie Golfrunden und Ausflüge besprochen wurden, und war froh, daß sie im Moment an nichts dergleichen denken mußte. Von Danus und Antonia war immer noch nichts zu sehen, und das erfüllte sie, wie sie sich schuldbewußt gestehen mußte, mit Dankbarkeit.
Sie verließ den Speisesaal. Inzwischen war es fast halb zehn. Sie schritt durch das Foyer und blieb am Tresen des Hoteldieners stehen.
»Ich möchte zum Museum. Wissen Sie zufällig, wann es öffnet?«
»Ich glaube, um zehn, Mrs. Keeling. Soll ich Ihnen ein Taxi bestellen?«
»Nein, vielen Dank. Ich gehe zu Fuß. Es ist ein so schöner Morgen. Aber wenn Sie mir vielleicht einen Wagen schicken würden, wenn ich fertig bin? Ich rufe Sie rechtzeitig an.«
» Selbstverständlich.«
»Vielen Dank.« Sie wandte sich ab und trat hinaus in den Sonnenschein und die frische Brise, die das Gefühl der Freiheit und Unbeschwertheit, das sie schon den ganzen Morgen gespürt hatte, noch intensiver machte. So hatte sie sich als Kind am Samstagvormittag gefühlt, aufnahmebereit und ohne festes Ziel, darauf gefaßt, unerwartete Freuden zu erleben. Sie ging langsam, genoß die Gerüche und Geräusche ringsum, blieb einige Male kurz stehen, um einen Garten und die schimmernde Weite der Bucht zu betrachten, und beobachtete einen Mann, der seinen Hund unten am Strand spazieren führte. Als sie dann endlich von der Hafenstraße abbog und die steile Gasse zum Museum hinaufging, sah sie, daß die Tür offenstand, fand es aber in Anbetracht der frühen Stunde und der Jahreszeit nicht überraschend, daß außer dem jungen Mann am Kassentisch noch niemand drinnen war. Es war ein sehr magerer und kränklich aussehender Jüngling in Flicken-Jeans und
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