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Die Muschelsucher

Die Muschelsucher

Titel: Die Muschelsucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosamunde Pilcher
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einem übergroßen gesprenkelten Pullover. Er gähnte, als hätte er die Nacht nicht geschlafen, doch als er sie erblickte, klappte er den Mund hastig zu, setzte sich gerade hin und fragte, ob sie den Katalog kaufen wolle. »Nein, danke, ich brauche ihn nicht. Vielleicht nehme ich nachher ein paar Ansichtskarten mit.«
    Er sank todmüde in sich zusammen. Sie fragte sich, wer auf die Idee gekommen sein mochte, ihn als Kustos einzustellen, und kam zu dem Schluß, daß er seine Arbeit wahrscheinlich aus Liebe zur Kunst tat. Die Muschelsucher, die sich in ihrem neuen Zuhause, einem Ehrenplatz an der langen, fensterlosen Wand, sehr eindrucksvoll ausmachten, warteten auf sie. Sie ging über die Steinplatten, auf denen ihre Schritte widerhallten, und machte es sich auf dem alten Ledersofa bequem, wo sie vor vielen Jahren so oft mit Papa gesessen hatte. Er hatte recht gehabt. Die jungen Künstler waren gekommen, genau wie er vorausgesagt hatte. Die Muschelsucher wurden flankiert und eingerahmt von abstrakten und neoexpressionistischen Bildern, die von Farbe, Licht und Leben strotzten. Die zweitklassigen Bilder (Fischerboote am Abend, Blumen an meinem Fenster), die früher die leeren Flächen gefüllt hatten, waren fort. Sie identifizierte die Werke der anderen Maler, der neuen Künstler, die ihren Platz eingenommen hatten, Gemälde von Ben Nicholson, Peter Lanyon, Brian Winter, Patrick Heron. Keines davon bedrängte Die Muschelsucher. Im Gegenteil, sie alle betonten die Blau- und Grautöne und die schimmernden Reflexe von Papas Lieblingsbild, und sie meinte fast, in einem Raum mit schönen alten und mit supermodernen Möbeln zu sein, die nicht miteinander wetteiferten und einander nicht in den Schatten stellten, weil jedes einzelne von einem Meister geschaffen war und zu den hervorragenden Zeugnissen seiner Zeit gehörte. Sie saß glücklich da und überließ sich der Faszination der Kunstwerke.
    Sie war sich kaum bewußt, daß hinter ihr ein neuer Besucher in den Raum trat. Er sprach flüsternd mit dem jungen Mann an der Kasse. Dann ertönte das Geräusch langsamer Schritte. Und dann war es urplötzlich so wie an jenem windigen Augusttag im Krieg, und sie war wieder dreiundzwanzig und hatte Turnschuhe mit Löchern an den Zehen an, und neben ihr saß Papa. Und Richard trat in das Museum, in ihr Leben. Und Papa sagte zu ihm: »Sie werden kommen. um die Wärme der Sonne und die Farbe des Windes zu malen.« Denn so hatte alles angefangen.
    Die Schritte näherten sich. Er blieb stehen und wartete, daß sie auf ihn aufmerksam wurde. Sie wandte den Kopf. Sie dachte an Richard und sah Danus. Verwirrt, ohne Zeitgefühl, blickte sie ihn an, einen Fremden. Er sagte: »Ich störe Sie.«
    Seine vertraute Stimme brach den unheimlichen Zauber. Sie riß sich zusammen, schüttelte die Vergangenheit ab und zwang sich zu einem Lächeln.
    »Natürlich nicht. Ich habe nur geträumt.«
    »Soll ich gehen?«
    »Nein. Bitte nicht.« Er war allein. Er trug eine marineblaue Strickjacke. Seine blauen Augen, deren Blick fest auf sie gerichtet war, leuchteten seltsam. »Ich verabschiede mich nur von den Muschelsuchern.« Sie rutschte etwas zur Seite, klopfte auf das abgesessene Leder neben sich. »Kommen Sie und nehmen Sie an dem einsamen Zwiegespräch teil.«
    Er setzte sich so hin, daß er ihr ins Gesicht sehen konnte, legte den Arm um die Rückenlehne und schlug die Beine übereinander. »Geht es Ihnen heute morgen besser?«
    Sie konnte sich nicht erinnern, daß sie krank gewesen wäre. »Besser?«
    »Antonia hat gestern abend gesagt, Sie fühlten sich nicht wohl.«
    »Ach, das.« Sie winkte ab. »Ich war nur ein bißchen müde. Im Augenblick fühle ich mich ausgezeichnet. Woher wußten Sie, daß ich hier bin?«
    »Der Hoteldiener hat es mir gesagt.«
    »Wo ist Antonia?«
    »Sie packt.«
    »Sie packt? Schon? Aber wir fahren doch erst morgen früh.«
    » Sie packt für mich. Ich bin gekommen, um Ihnen das zu sagen. Das und eine Menge anderer Dinge. Ich muß schon heute fort. Ich nehme den Zug nach London, und von dort fahre ich heute abend mit dem Nachtzug nach Edinburgh. Ich muß nach Hause.« Sie konnte sich nur einen Grund für die übereilte Abreise vorstellen. »Ihre Familie. Es ist etwas passiert. Ist jemand krank?«
    »Nein. Das ist es nicht.«
    »Aber warum?« Ihre Gedanken eilten zurück zum Abend zuvor und zu Antonia, die in Tränen aufgelöst auf ihrem Bett saß. Du mußt offen und ehrlich sein, hatte sie ihr in der arroganten, von der

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