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Die Muschelsucher

Die Muschelsucher

Titel: Die Muschelsucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosamunde Pilcher
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Ein stechender Schmerz, der sich anfühlte, als würde sie von einem glühenden Eisen durchbohrt, schoß ihren linken Arm hoch und legte sich wie ein Schraubstock, ein stählernes, immer fester zugezogenes Band, um ihre Brust. Sie konnte nicht mehr atmen, sie hatte noch nie eine solche Qual empfunden. Sie schloß die Augen und machte den Mund auf, um ihren Schmerz hinauszuschreien, aber kein Ton entrang sich ihrer Kehle. Ihr ganzes Sein war auf den Schmerz reduziert. Auf den Schmerz und auf die Finger ihrer rechten Hand, die immer noch um den Löwenzahn geklammert waren. Es war aus irgendeinem Grund furchtbar wichtig, ihn festzuhalten. Sie konnte die kalte, feuchte Erde fühlen, die an seiner Wurzel haftete, und sie konnte den schweren und durchdringenden Duft der Erde riechen. Sie hörte die Drossel singen, in weiter Ferne und ganz leise. Und dann stahlen sich andere Gerüche und Geräusche in ihr Bewußtsein. Das frisch gemähte Gras eines Rasens aus vergangenen Zeiten, eines Rasens, der sich bis zum Wasser hinuntersenkte und mit wilden Narzissen gesprenkelt war. Die Dreizehenmöwen riefen. Schritte von einem Mann.
    Die höchste Seligkeit. Sie machte die Augen auf. Der Schmerz war fort. Die Sonne war nicht mehr da. Vielleicht hinter einer Wolke verschwunden. Es spielte keine Rolle. Nichts spielte mehr eine Rolle. Er kam. »Richard.« Er war da.
    Am Dienstag, dem 1. Mai, stand Olivia um Viertel nach neun in der kleinen Küche ihres Hauses in der Ranfurly Road und brühte Kaffee auf, kochte sich ein Ei zum Frühstück und blätterte die Post durch, die vorhin gekommen war. Sie hatte sich wie üblich frisiert und geschminkt, bevor sie frühstückte, war aber noch nicht für die Redaktion angezogen. Zwischen den braunen und weißen Umschlägen fand sie eine Hochglanzpostkarte aus Assisi, wo einer der Graphiker seinen Urlaub verbrachte. Sie drehte sie um und las den nichtssagenden Gruß, und während sie dies tat, klingelte das Telefon.
    Ohne die Karte hinzulegen, ging sie in den Wohnbereich und nahm ab.
    » Olivia Keeling.«
    »Miss Keeling?« Eine Frauenstimme, eine Stimme mit ländlichem Akzent. »Ja.«
    »Oh, ich habe Sie erwischt. Ich fürchtete, Sie seien schon ins Büro gegangen.«
    » Nein, ich gehe erst um halb zehn. Darf ich fragen, wer Sie sind?«
    »Oh. Mrs. Plackett. Ich rufe von Podmore’s Thatch an.« Mrs. Plackett. Mit größter Umsicht, als wäre es eine Sache von ungeheurer Bedeutung, stellte Olivia die Ansichtskarte so auf den Kaminsims, daß der obere Rand am vergoldeten Spiegelrahmen lehnte. Ihr Mund war ausgedörrt. »Ist mit Mama alles in Ordnung?« brachte sie hervor.
    »Miss Keeling, ich fürchte. Hm, es ist eine schlechte Nachricht. Es tut mir so leid, Miss Keeling. Ihre Mutter ist gestorben. Heute morgen, ganz früh, ehe jemand von uns da war.« Assisi, unter einem unwirklich blauen Himmel. Sie war nie in Assisi gewesen. Mama war tot. »Wie ist es geschehen?«
    »Ein Herzanfall. Es muß ganz plötzlich gekommen sein. Draußen im Garten. Antonia hat sie gefunden. Sie saß auf der alten Bank. Sie hatte Unkraut gejätet. Sie hatte noch einen Löwenzahn in der Hand. Sie muß noch Zeit genug gehabt haben, um bis zur Bank zu kommen und sich hinzusetzen. Sie. sie sah nicht so aus, als ob sie gelitten hätte, Miss Keeling.«
    »Hatte sie sich unwohl gefühlt?«
    »Nein, kein bißchen. Sie kam braungebrannt und vergnügt wie immer aus Cornwall zurück. Aber gestern war sie den ganzen Tag in London.«
    »Mama war in London? Warum hat sie mir nicht Bescheid gesagt?«
    »Ich weiß nicht, Miss Keeling. Ich weiß auch nicht, warum sie hingefahren ist. Sie ist von Cheltenham mit dem Zug gefahren, und Antonia sagte, sie hat schrecklich müde und erschöpft ausgesehen, als sie sie abgeholt hat. Sie hat gebadet und ist dann gleich ins Bett gegangen, und Antonia hat ihr noch eine Kleinigkeit zu essen gebracht. Aber vielleicht hat sie sich zuviel zugemutet.« Mama war tot. Das Gefürchtete, das Unvorstellbare war geschehen. Mama war für immer gegangen, und sie, die sie fast mehr geliebt hatte als irgendeinen anderen Menschen auf der Welt, konnte nichts anderes fühlen als eine entsetzliche Kälte. Ihre Arme hatten unter den weiten Ärmeln des Morgenrocks eine Gänsehaut bekommen. Mama war tot. Die Tränen, der Schmerz und das qualvolle Gefühl des Verlusts waren da, aber unter der Oberfläche, und sie war dankbar dafür. Später werde ich meinem Kummer nachgeben, sagte sie sich. Im Moment würde sie ihn

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