Die Muschelsucher
da. Am Ende einer Telefonleitung, und sie würde sagen: »Klar, in Ordnung, komm her, ich nehme dich unter meine Fittiche.« Aber im Augenblick war Olivia nicht ansprechbar. Sie schien nur an das Praktische zu denken, sie organisierte, machte Listen und telefonierte - sie schien sich nie einen Schritt vom Telefon zu entfernen. Sie hatte ihr, ohne ein einziges Wort zu sagen, unmißverständlich klargemacht, daß jetzt nicht die Zeit für lange rückhaltlose Gespräche war, nicht die Zeit für Vertraulichkeiten. Antonia hatte genügend Grips, um zu begreifen, daß sie Olivia zum erstenmal von ihrer anderen Seite kennenlernte: als die kühle und tüchtige Karrierefrau, die sich die Erfolgsleiter hinaufgekämpft hatte, Chefredakteurin von Venus geworden war und dabei gelernt hatte, keine Rücksicht auf menschliche Schwächen zu nehmen und keine Gefühlsseligkeit zu dulden. Die andere Olivia, die Olivia, die sie in den alten Tagen - so sah sie es bereits - kennengelernt hatte, war wohl zu verletzlich, um sich Blößen zu geben, und hatte sich einstweilen gegen alles abgeschottet. Antonia verstand und respektierte das, aber es war deshalb nicht leichter für sie. Da diese unsichtbare Barriere zwischen ihnen war und da außerdem auf der Hand lag, daß Olivia mehr als genug um die Ohren hatte, hatte sie ihr kaum etwas von Danus erzählt. Sie hatten dort oben auf dem windigen Hügel beiläufig von ihm gesprochen, während Mr. Bedway in Podmore’s Thatch die Dinge erledigte, an die sie nicht denken wollten, aber sie hatten nichts Wichtiges gesagt. Nicht wirklich Wichtiges. Er ist Epileptiker, hatte sie Olivia gesagt. Aber sie hatte nicht gesagt: Ich liebe ihn. Er ist der erste Mann, den ich je geliebt habe, und er empfindet das gleiche für mich. Er liebt mich, und wir haben miteinander geschlafen, und es war überhaupt nicht beängstigend, wie ich immer geglaubt hatte, sondern irgendwie genau richtig, und es war überwältigend, ein Rausch, alles zugleich. Es ist mir egal, was die Zukunft für uns bereithält, es ist mir egal, daß er kein Geld hat. Ich möchte, daß er so schnell zu mir zurückkommt, wie es geht, und wenn er krank ist, werde ich warten, bis es ihm wieder gut geht, und ich werde für ihn da sein, und wir werden irgendwo auf dem Land leben und zusammen Gemüse anbauen.
Sie hatte es nicht gesagt, weil sie wußte, daß Olivia mit den Gedanken woanders war. Es bestand sogar die Möglichkeit, daß es sie nicht einmal interessierte und daß sie es nicht hören wollte. Mit Olivia im selben Haus zu wohnen, war ein bißchen so, als säße sie im Zug neben einer Fremden. Es gab keinen echten Berührungspunkt, und Antonia hatte das Gefühl, in ihrem eigenen Unglück gefangen zu sein.
Vorher war immer irgend jemand dagewesen. Jetzt war nicht einmal Danus da. Er war weit fort in Nordsutherland, weder telefonisch noch telegrafisch oder mit anderen normalen Kommunikationsmitteln zu erreichen. Sie sagte sich, daß er ihr nicht ferner sein könnte, wenn er beschlossen hätte, mit einem Einbaum den Amazonas hinunterzufahren oder ein Gespann von Schlittenhunden über das Polareis zu treiben. Nicht in der Lage zu sein, sich mit ihm in Verbindung zu setzen, war fast unerträglich. Sie tat so, als wäre Telepathie ein zuverlässiges Radarsystem, und verbrachte den größten Teil des Tages damit, ihm sorgsam formulierte gedankliche Botschaften zu senden, befahl ihm im Geiste, sie zu empfangen und darauf zu reagieren. Notfalls dreißig Kilometer zur nächsten Telefonzelle zu fahren, die Nummer von Podmore’s Thatch zu wählen und zu fragen, was los war.
Doch das geschah nicht, und sie war nicht weiter überrascht. Aber am Donnerstag wird er anrufen, sagte sie sich zum Trost. Er kommt am Donnerstag nach Edinburgh zurück, und dann wird er anrufen, sobald er kann. Er hat es versprochen. Er wird anrufen, um mir. uns?. das Ergebnis der Hirnuntersuchung und die Prognose des Arztes mitzuteilen. (Wie sonderbar, daß dies nun nicht mehr so schrecklich wichtig zu sein schien.) Und dann werde ich ihm sagen, daß Penelope tot ist, und er wird auf dem schnellsten Weg herkommen, und wenn er hier ist, werde ich wieder stark sein. Antonia brauchte diese Kraft, um Penelopes Beerdigung überstehen zu können, die ihr wie eine schwere Probe bevorstand. Sie war nicht sicher, daß sie es ohne Danus an ihrer Seite schaffen würde. Langsam, sehr langsam tröpfelten die Stunden dahin. Der Mittwoch war vorbei, und es war Donnerstag. Heute ruft er an.
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