Die Muschelsucher
alt und vergilbt wie ein kostbares Pergament, hoch. »Was ist das?« wollte Amabel wissen. »Keine Fünfpfundnote. Ich glaube, ein Brief.«
»Oh, schade.«
Behutsam, um es nicht zu zerreißen, faltete er das Blatt auseinander. Er sah eine stark nach rechts geneigte, altmodische Handschrift, die schönen, schnörkeligen, mit einer sehr feinen Feder geschriebenen Buchstaben.
Dufton Hall, 8. Mai 1898
Lincolnshire
Mein lieber Stern!
Ich danke Ihnen für Ihren Brief aus Rapallo und nehme an, daß Sie inzwischen nach Paris zurückgekehrt sein werden.
Ich hoffe, daß ich im nächsten Monat in der Lage sein werde, nach Frankreich zu reisen, um mir die Ölskizze für Terrasse über dem Meer anzusehen. Ich werde Ihnen telegraphisch das Datum und die Zeit meines Besuchs mitteilen, sobald ich die nötigen Reisevorbereitungen getroffen haben werde.
Mit freundlichen Grüßen, Ernest Wollaston
Er hatte den Brief schweigend gelesen. Als er fertig war, saß er einen Augenblick gedankenverloren da, hob dann den Kopf und sah Amabel an.
Er sagte: »Unglaublich.«
»Was steht drin?«
»Unglaublich, daß man so was findet.«
»O Noel, um Gottes willen, lies vor.«
Er tat es. Als er ausgelesen hatte, war Amabel nicht klüger als vorher. »Was ist daran so unglaublich?«
»Es ist ein Brief an meinen Großvater.«
»Na und?«
»Hast du nie was von Lawrence Stern gehört?«
»Nein.«
»Er war Maler. Ein sehr erfolgreicher viktorianischer Maler.«
»Ich hatte keine Ahnung. Kein Wunder, daß er einen so irren Mantel hatte.«
Noel überhörte die nicht sehr intelligente Bemerkung. »Ein Brief von Ernest Wollaston.«
»War das auch ein Maler?«
»Nein. Du hast wirklich nicht die Bildung mit Löffeln gefressen. Er war kein Maler, sondern ein Millionär. Er wurde schließlich zum Ritter geschlagen und hieß Lord Dufton.«
» Und dieses Bild. Wie hieß es doch gleich?«
»Terrasse über dem Meer. Es muß ein Auftragswerk gewesen sein. Er gab Lawrence Stern den Auftrag, es für ihn zu malen.«
»Von dem Bild hab ich auch noch nie gehört.«
»Das hättest du aber. Es ist sehr berühmt. Es hängt seit zehn Jahren im Metropolitan Museum in New York.«
»Wie ist es?«
Noel schwieg einen Moment und versuchte angestrengt, sich an ein Gemälde zu erinnern, von dem er nur irgendwann einmal eine Reproduktion in einer Kunstzeitschrift gesehen hatte. »Eine große Terrasse. Offensichtlich in Italien, deshalb ist er in Rapallo gewesen. An einer Brüstung lehnen ein paar Frauen, und überall sind Rosen, Zypressen und blaues Meer, und ein Jüngling spielt Harfe. Es ist auf seine Art sehr schön.« Er blickte wieder auf den Brief, und urplötzlich fügte sich das Mosaik zusammen, und er wußte, wie es damals gewesen war. »Ernest Wollaston hatte ein Riesenvermögen verdient und war in die gute Gesellschaft aufgestiegen, und dann ließ er sich ein protziges Schloß in Lincolnshire bauen. Er kaufte bestimmt Möbel und ließ in Frankreich Teppiche weben, und da er keine Familienporträts oder Gainsboroughs oder Zoffanys geerbt hatte, die er an die Wände hängen konnte, war es ganz logisch, daß er einem Maler, der damals sehr berühmt war, den Auftrag gab, ein Bild für ihn zu malen. Es muß damals ungefähr so gewesen sein, als gäbe man jemandem den Auftrag, einen Film zu machen. Die Umgebung, die Kostüme, die Modelle, alles mußte überlegt werden, und wenn man sich darüber geeinigt hatte, machte der Maler eine Ölskizze, die der Auftraggeber genehmigen mußte. Der Maler würde monatelang an dem Bild sitzen und mußte einigermaßen sicher sein, daß er genau das malte, was der andere wollte, und daß das fertige Bild ihm gefallen würde, damit er sein Geld bekam.«
»Ich verstehe.« Sie lag, das Gesicht von Haaren umflossen, wie Ophelia im Wasser und dachte über all das nach. »Aber ich weiß immer noch nicht, warum du so aufgeregt bist.«
»Es ist nur, daß. Ich hatte nie an die Ölskizzen gedacht.
Oder ich habe sie vollkommen vergessen.«
»Sind sie denn so wichtig?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht.«
»Dann war es also gut, daß ich das komische Geräusch im Mantel gehört und dich daraufgebracht habe.«
»Ja. Du bist Spitze.«
Nach einer Weile faltete er den Brief zusammen, steckte ihn in die Tasche, leerte das Glas und stand auf. Er sah auf die Uhr. »Es ist halb acht«, sagte er zu ihr. »Du machst dich jetzt besser landfein.«
»Wohin willst du?«
»Nach nebenan, mich umziehen.«
Sie traf keine Anstalten, aus der
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