Die Muse des Mörders (German Edition)
vorn und fixierte Dominik mit seinen kalten, schmalen Augen. »Bringen Sie diesen Kerl zum Reden, Greve. Mit allen Mitteln.«
Dominik schüttelte den Kopf.
»Uns stehen nicht viele Mittel zur Verfügung. Wenn er nicht reden will …«
Reinhardt winkte ab.
»Vergessen Sie doch einmal das Gesetz, Greve. Dieser Junge hat weiß Gott wie viele Menschen getötet. Da können wir doch einmal vom Protokoll abweichen, oder nicht?«
»Was meinen Sie?« Dominik gefiel die Richtung gar nicht, in die das Gespräch verlief.
»Sie wissen genau, was ich meine. Bringen Sie ihn zum Reden. Wenn Sie dafür gegen Regeln verstoßen müssen …« Reinhardt machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich sorge dafür, dass von allen Seiten ein Auge zugedrückt wird, Sie verstehen schon.«
»Nein.«
»Oh doch, das tun Sie.« Reinhardt erhob sich von seinem Schreibtisch. »Raus mit Ihnen. Sie haben noch eine Menge Arbeit vor sich, wenn Sie mir bis Freitag das Geständnis des Jungen vorlegen wollen.«
»Bis Freitag?« Dominik schüttelte den Kopf. »Das wird nicht möglich sein.«
»Doch, Greve, das wird es. Denken Sie an Treger.« Reinhardt grinste selbstgefällig und wedelte mit der Hand. »Und jetzt raus hier.«
65.
Müde zog Madeleine die Tür des Arbeitszimmers hinter sich zu. Sie hatte Marie eine Beruhigungstablette gegeben und hoffte, dass das Mädchen nicht von Albträumen geplagt werden würde. Auch sie selbst brauchte dringend Schlaf. Gleich morgen Früh wollte sie damit beginnen, das Chaos zu entwirren, das vielleicht einen Unschuldigen hinter Gitter gebracht und die arme Marie ins Unglück gestürzt hatte. Sie tappte zu ihrem Schlafzimmer, schloss leise die Tür hinter sich und trat ans Fenster. Die Stadt lag friedlich und still vor ihr und es kam ihr vor, als habe sich etwas verändert.
Sie schüttelte den Kopf. Wenn Marie recht hatte, war der Mörder noch nicht gefasst. Madeleine wollte glauben, dass es so war. Die Vorstellung, dass die verletzliche Goldschmiedstochter tatsächlich die einzigen beiden Personen, die ihr etwas bedeuteten, für immer verloren hatte, brach ihr das Herz. Wenn sie in Maries traurige Augen blickte, musste sie unweigerlich an Lucy denken. Auch Lucy war verzweifelt gewesen, damals, bevor Madeleine sie bei sich aufgenommen hatte. An einem sonnigen Tag auf dem Naschmarkt hatte die damals Zwanzigjährige versucht, ihr die Handtasche zu entreißen. Der Beutezug war gründlich schiefgegangen. Passanten hatten die Diebin aufgehalten und gedroht, die Polizei zu rufen. Lucy war hysterisch geworden und in Tränen ausgebrochen. Genau wie heute Marie hatte auch die junge Kriminelle damals Madeleines Mitleid erregt. Sie hatte die Situation heruntergespielt, eine neuerliche Anzeige der Vorbestraften verhindert und sie mit viel Geduld und ausreichend Strenge aus ihrem Umfeld gelöst. Bei Marie ging es aber um ganz andere Probleme.
Madeleine wandte sich vom Fenster ab, löste ihren Haarknoten und legte die Spange auf den Nachttisch. Dort standen immer noch die Beruhigungspillen, die der Notarzt ihr hiergelassen hatte. Georg hatte sie am frühen Abend angerufen und sich in weinerlichem Tonfall bei ihr entschuldigt, doch sie hatte ihn nicht ausreden lassen. Dreiundsiebzig Jahre als seine Schwester hatten ihr gezeigt, dass seine Entschuldigungen meist wertlos waren. Außerdem hatte sie immer noch ganz andere Sorgen als seine unreife Persönlichkeit.
Während sie sich umzog, sah sie die Ereignisse der vergangenen Tage wie einen Film vor ihrem inneren Auge ablaufen. Das unheimliche Geschenk. Die Idee, dass der Mörder den Schmuck raubte, weil er der Meinung war, seine Besitzer würden ihn nicht verdienen. Der verrückte Mann. Der tote Goldschmied. Der unfreundliche Dominik Greve.
Sie würde einen Weg finden, diesen Dschungel aus Geheimnissen, Erkenntnissen und bösen Überraschungen zu durchschauen, aber nicht mehr heute. Kaum hatte ihr Kopf das Kissen berührt, fiel sie auch schon in einen tiefen Schlaf.
66.
Dominik hielt vor seinem Haus, stieg aber nicht aus. Es war bereits dunkel draußen, aber sowohl in Leas als auch in Simons Zimmer brannte noch Licht. Im Schlafzimmer sah er Hannahs Umriss vor den zugezogenen Gardinen unruhig hin und her eilen.
Er überlegte, ob er überhaupt hingehen oder zuerst mit Rebecca sprechen sollte, entschied sich dann aber dafür, sich zuerst bei seiner Familie blicken zu lassen. Er wollte sich entschuldigen, weil er schon wieder eines seiner Versprechen
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