Die Mutter
Hörer.»
Olgert grinste unfroh. «Das Weinen konnte er Ihrer Enkelin überlassen, Herr Merten.» Er machte eine Pause, als warte er auf eine Reaktion. Als keine kam, sprach er weiter: «Heute früh um sieben wussten außer den unmittelbar Betroffenen nur drei Männer, dass Rena gestern Abend nicht heimgekommen ist. Der Besitzer des Reitstalls, der Gastwirt und Scherer. Scherer fährt seit sechs Uhr durchs Feld, er kann nicht angerufen haben. Den Gastwirt können wir theoretisch auch ausschließen, da sehe ich im Moment keine Verbindung. Bleibt Hennessen, der Rena seit zwei Jahren kennt. Da hätte ich an seiner Stelle längst bei den Eltern nachgefragt, ob sie mit ihrer Suche in der Nacht Erfolg hatten.»
«Vergessen Sie ihn», erklärte Vater bestimmt. «Der Mann ist in Ordnung.»
Olgert nickte bedächtig. «Dann sind wir beim großen Unbekannten. Oder wir nehmen die harmlose Möglichkeit. Ein Mädchen verbringt die Nacht außer Haus, am nächsten Morgen hat es Angst vor den Konsequenzen.»
Endlich konnte ich auch etwas sagen: «Das ist Unsinn.»
«Nein, Frau Zardiss.» Plötzlich änderte sich sein Tonfall, er wandte sich mir zu. «Jetzt wollen wir mal offen reden. Sie haben ein gutes Verhältnis zu Ihren Töchtern. Sie sind bemüht, die kleinen und großen Wünsche zu erfüllen. Ein eigenes Pferd zum Geburtstag. Aber es war nicht das Pferd, an dem Ihre Tochter mit Leib und Seele hängt. Dieses Pferd verschwand gestern aus dem Stall. Und hier wusste niemand etwas davon. Finde ich ungewöhnlich bei einem guten Verhältnis zwischen Eltern und Kindern.»
Sein Blick glitt zu Anne hinüber. «Was mich erst recht stutzigmacht, ist, dass sie auch Ihnen nichts davon gesagt hat. Von der Mathearbeit erzählt sie Ihnen. Dabei gab es in diesem Punkt keinen Anlass zur Besorgnis. Den hätte es ja, wenn ich glauben darf, was ich hier hörte, nicht einmal gegeben, wenn die Arbeit bereits geschrieben und mit einer Fünf oder Sechs benotet worden wäre. Also gehe ich davon aus, dass dieses ‹Morgen bin ich krank› sich nicht auf schulische Probleme bezog, sondern auf die Trennung von dem Pferd.»
Mit seiner Entführungstheorie schien es ihm nicht ernst gewesen. Jetzt ging es nur noch darum: Entweder wollte Rena bei dem Geschöpf sein, das ihrem Herzen am nächsten stand. Oder sie wollte uns bestrafen. Wir sollten am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn etwas, das man liebt, nicht mehr da ist.
Wie hatte ich ihn für kompetent halten können? Er ging mir entsetzlich auf die Nerven mit seinem Geschwafel. «Das ist Unsinn», wiederholte ich und wünschte, mir wäre ein anderer Satz eingefallen. Einer, der nicht hilflos klang, sondern überzeugte. «Ich würde es vielleicht in Betracht ziehen, wenn es eine milde Nacht gewesen wäre.»
Aber gerade der Sturm und der Regen hätten die Sache für Rena verführerisch machen können, meinte Olgert. Die Wetterverhältnisse mussten unsere Angst um sie zwangsläufig steigern. Und um festzustellen, wie groß unsere Angst war, rief sie an und weinte uns etwas vor.
«Nein», sagte ich. «Rena hätte ihr Geld mitgenommen, wenn sie vorgehabt hätte, über Nacht wegzubleiben.»
Sein Lächeln trampelte auf meinen Nerven wie ein Paar Stiefel mit genagelten Sohlen. «Mit dreiundfünfzig Pfennig kommt man nicht weit. Ihren Pass hat sie jedenfalls bei sich. Vielleicht sollten Sie mal kontrollieren, ob Ihnen Geld fehlt.»
«Meine Enkelin stiehlt nicht», brauste Vater auf.
Ich wusste nicht, was ich noch sagen sollte.
Warten! Mutter räumte den Tisch ab, wollte sich danach um den Teppich in unserem Schlafzimmer und die Fenster kümmern. Vater ging hinaus, um den Hof in Ordnung zu bringen. Anne zog ihre Gummistiefel an und eine Jacke über. «Ich schau mich draußen mal um.»
Olgert wollte sich noch einmal in Renas Zimmer umsehen und stöberte auf der Suche nach ihrem Pass durch die Schubfächer ihres Schreibtisches, blätterte in alten Schulheften und Notizbüchlein, die ursprünglich gedacht gewesen waren, Hausaufgaben darin festzuhalten. Rena hatte sie mit Zeichnungen gefüllt. Im Nachttisch fand er ihre Tagebücher. Zwei dicke Stapel, es mussten um die zwanzig Stück sein.
Rena hatte schon früh angefangen, Tagebuch zu führen. Ich erinnere mich noch an ihre erste Eintragung. Da war sie sieben und malte die Buchstaben mehr, als sie sie schrieb. Ihre Rechtschreibung ließ zu wünschen übrig, von korrekter Zeichensetzung hielt sie noch gar nichts.
Mein libes buch,
heute ist mein
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