Die Mutter
Geburstag und ich habe dich gesenkt bekomen. Jetz bis du mein bester freund und ich sahge dir ales was ich mir wünse und was pasiert wenn ich traurig bin und wenn ich mich gefreuht habe.
Ich lief im Haus herum, von einem Zimmer ins andere, hinauf und hinunter. Ich mochte Olgert nicht wie ein Hund auf den Fersen hängen, mir nicht seine Theorie anhören. Aber dann hielt ich es nicht mehr aus und ging nachschauen, was er in Renas Zimmer trieb. Ich fand ihn auf dem Bett sitzend, eines der Tagebücher auf dem Schoß, in ihre letzte Eintragung vertieft. Er schaute auf. «Haben Sie schon einen Blick hierauf geworfen?»
Ich schüttelte den Kopf. Wir hatten nie in Renas Sachen geschnüffelt. Ihre erste Eintragung hatte sie mir gezeigt, danach keine mehr, weil ich sie auf die Rechtschreibfehler und die fehlenden Kommas aufmerksam gemacht hatte. Und mir wäre nie derGedanke gekommen, zu kontrollieren, was sie ihren Büchern anvertraute.
Für mich war ein Tagebuch etwas Persönliches und Intimes. Es wäre mir wie ein Vertrauensbruch erschienen, darin zu lesen. Ich hatte selbst lange Jahre Tagebuch geführt. Die Vorstellung, dass sich fremde Augen darüber hermachten, meine Gedanken, Wünsche und Ängste fraßen, war mir widerlich.
Olgert schien mir anzusehen, was ich dachte. «Tut mir Leid, aber für uns ist das sehr aufschlussreich.» Dann las er vor, nur zwei Sätze. «Heute wird Mattho abgeholt. Ich wünsche mir, ich könnte mit ihm gehen.» Er hob den Kopf. «Die Tinte ist an einigen Stellen zerlaufen. Sieht aus wie Tränen.»
Rena musste es frühmorgens oder mittags geschrieben haben. Und da stand «wünsche» und «könnte», nicht «werde». Trotzdem fragte Olgert: «Sie wissen nicht zufällig, wohin der Bursche verkauft wurde?» Ich schüttelte erneut den Kopf.
In der Diele klingelte wieder das Telefon. Vater war noch draußen, er hörte es nicht. Mutter wischte im Wohnzimmer wie besessen an den Fensterscheiben herum. Das Quietschen des Ledertuchs hatte mich durchs Haus verfolgt. Durch das Klingeln wurde es verschluckt, ich empfand das als Erleichterung. Bis mir Olgerts Blick auffiel und Mutter rief: «Vera, jetzt unternimm doch etwas! Das raubt einem ja den letzten Nerv.»
Ich lief die Treppen hinunter. Olgert folgte mir. Ich riss den Hörer hoch, nannte meinen Namen, er drückte auf die Taste für den Lautsprecher.
Es war Udo von Wirth. Seine Stimme klang erstickt. Er musste sich mehrfach räuspern, ehe ich ihn verstand. Klinkhammer war bei ihm gewesen. Udo sagte: «Es tut mir so Leid, Frau Zardiss. Kann ich irgendwas tun?»
Ich wusste nicht, was er hätte tun können.
Er sagte: «So ein gottverfluchter Tag, erst Annegret und die Kinder, dann auch noch Rena.»
«Sie ist nicht tot», schrie ich. «Die Männer werden sie finden. Sie suchen draußen alles ab.»
Olgert nahm mir den Hörer aus der Hand, sprach ein paar Worte mit Udo und legte wieder auf. Draußen fuhr ein Wagen vor. Klinkhammer kam zurück. Wir gingen ins Wohnzimmer.
Mutter stürzte sich mit Eimer und Ledertuch auf die großen Scheiben im Wintergarten. Vater harkte Blätter und abgebrochene Äste vom Rasen. Sie kamen mir vor wie zwei Kinder, die einen Fehler gemacht und Angst vor Schelte haben. Die sich unsichtbar machen, bis die Wogen wieder geglättet sind.
Udo von Wirth hatte Klinkhammer nichts von Bedeutung sagen können. Dass Rena Pläne gehabt haben sollte, mochte Udo nicht glauben. Aber Annegret hatte Pläne gehabt für den Samstag, ein großes Fest mit der Familie, der Geburtstag ihres Mannes. Klinkhammer ließ sich minutenlang über Udos seelische Verfassung und die Sinnlosigkeit von Fragen zum jetzigen Zeitpunkt aus, dann kam er auf Hennessen zu sprechen.
Von ihm hatte er die Namen und Adressen der anderen fünf erfahren, bereits mit den Eltern gesprochen und fünfmal dieselbe Auskunft erhalten. Rena war nirgendwo aufgetaucht, hatte in den letzten Tagen und Wochen auch bei niemandem angerufen. Er glaubte das, wollte trotzdem persönlich mit den jungen Leuten sprechen, so schnell wie möglich. Aber sie verteilten sich auf mehrere Schulen und das Steuerberatungsbüro, in dem Horst beschäftigt war.
Klinkhammer wirkte unzufrieden wie ein Mann, der seine Zeit auf eine Lappalie verschwenden und die wichtige Arbeit vernachlässigen muss. Sein Haar sah aus, als hätte er es während der letzten Stunde unentwegt gerauft. Welche Auskünfte er von Gretchen erhalten hatte, verschwieg er. Er schilderte die Unterhaltung mit Hennessen.
Renas
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