Die Mutter
getötet. Er muss es getan haben. Es war doch sonst niemand da. Ausgerechnet Hennessen! Und er konnte mir ins Gesicht lügen! Wir haben ihm vertraut. Dankbar waren wir ihm, dass er mit seinen Gäulen die aufmüpfige Phase beendete.
Es war eine unangenehme Zeit. Es ist mehr als unangenehm, wenn einem ein Kind so aus den Händen gleitet. Ich wusste oft nicht, wie ich mit Rena reden, wie ich mit ihr umgehen sollte. Ich mag mich gar nicht erinnern. Wie viele Nächte habe ich wach gelegen? Wie viele Stunden habe ich auf Jürgen eingeredet, ob wir sie nicht besser in ein Internat geben. Er sagte: «Quatsch!» Und meine Mutter bekam Zustände, wenn wir sie besuchten und Rena bei uns war.
Sie war gerade dreizehn, als es anfing. Und es ging fast ein Jahr so, bis wir hierher zogen. Schwarze Schlabberhosen, schwarz lackierte Fingernägel und diese scheußliche Zebrafrisur. Es kam so weit, dass wir sie nicht mehr mit zu meinen Eltern nehmen konnten. Ein Glück, dass keine Fotos aus dieser Zeit existieren. Kein Mensch würde einen Finger rühren für Rena, wenn ihm solch ein Bild unter die Augen käme.
Dabei hatte sie sich nicht aus eigenem Antrieb so verunstaltet. Es war Nita Kolter, dieses verkorkste Aas. Ich hatte den Verdacht,dass Nita Drogen nahm. Und ich befürchtete, dass sie Rena dieses Teufelszeug aufschwatzte. Mehr als einmal kam sie heim und war irgendwie komisch, entweder zu still oder zu fröhlich, hektisch und überdreht.
Und Hennessen machte dem ein Ende. Rena war hellauf begeistert von ihm. «Er ist so nett. Er hat gesagt, ich darf jederzeit bei ihm schnuppern kommen, wenn’s mir so viel Spaß macht, mit Pferden umzugehen. Er freut sich immer, wenn er junge Leute um sich hat.»
In meiner Hand begann es zu kleben. Der Schweiß löste die Pille auf. Auf meiner Uhr war es Viertel nach zwei. Gestern um diese Zeit, dachte ich. Gestern um diese Zeit schlang Rena in aller Eile Gemüseeintopf ohne geräucherte Schweinerippchen in sich hinein, stopfte ein paar Sachen zum Wechseln in eine Plastiktüte.
Gestern um diese Zeit waren Annegret Kuhlmann und ihre beiden kleinen Kinder bereits tot. Polizei und Feuerwehr mühten sich ab, ihre Leichen aus dem Blechknäuel zu bergen. War das nicht genug Katastrophe für einen Tag?
Gestern um diese Zeit waren wir noch in der Praxis. Wir waren allein. Sandra Erken arbeitete nur am Vormittag für vier Stunden. Sie ging pünktlich um zwölf, nach Möglichkeit sogar ein paar Minuten früher, um ihren kleinen Sohn aus dem Kindergarten abzuholen. Jasmin war trotz Sturm und Regen heimgelaufen. Sie wohnte nicht weit von der Praxis entfernt.
Wir hatten um eins am Fenster gestanden und zugeschaut, wie Annegret Kuhlmann ihre Einkäufe aufsammelte. Als sie abfuhr, legte Jürgen mir einen Arm um die Schultern und sagte: «Ich weiß eine angenehmere Beschäftigung als Wetter gucken. Gehn wir nach nebenan und machen es uns gemütlich.»
Es war nicht gemütlich. Es war ein Spiel. Wenn Kinder es spielen, schlägt man ihnen auf die Finger. Man sagt: «Pfui, das gehört sich nicht.» Wir waren keine Kinder mehr, wir waren erwachsen. Und tolerant. Wir lebten nach dem Motto: Tun, was Spaß macht.Mich reizte vor allem der Gedanke, was Mutter sagen würde, wenn sie es wüsste.
Ich hätte vor Klinkhammer und Olgert im Boden versinken mögen. Gestern um diese Zeit! Während unsere Tochter sich auf den Weg zu ihrem Mörder machte, haben wir es auf dem Untersuchungsstuhl getrieben. Und keinen Gedanken an Rena verschwendet. Wir hatten uns völlig sicher gefühlt in den letzten beiden Jahren. So sicher, dass wir es uns erlauben konnten, übermütig zu werden.
Das Zischen in der Küche war verstummt. Anne kam mit einer Platte voll belegter Brote herein. Dreimal lief sie hin und her, brachte Geschirr und Besteck, Kaffee, Sahne und Zucker. Beim letzten Gang fragte sie Jürgen: «Soll ich dir etwas bringen, Papa? Oder setzt du dich zu uns?»
Er kam herein, setzte sich auf die Couch. Ich musste wissen, wer angerufen hatte. Ich hielt es nicht aus, dieses Schwanken zwischen Stall und Bus. Wie er mich anschaute. Reiß dich zusammen, Vera! Er musste es nicht noch einmal aussprechen, es stand ihm auf der Stirn geschrieben.
«Tut mir Leid, dass ich so heftig geworden bin», sagte er. Ob er sich bei Klinkhammer oder bei mir entschuldigte, war nicht ersichtlich. Er lächelte verlegen. «Meine Nerven sind heute auch nicht die stärksten. Aber diese Anrufe …» Er brach ab, zuckte mit den Schultern. «Eine
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