Die Mutter
im Kopf oder ein Bild vor Augen. Nita Kolter und André Menke vor unserer Haustür, in unserem Wohnzimmer, die zertretenen Süßstoffkrümel auf dem Boden. Nita und Menke in einer Telefonzelle. Vor der Zelle parkt ein grauer Kleinbus. Rena steht daneben und schaut zu, wie Nita in den Hörer schluchzt und stöhnt und sich dabei vor Lachen krümmt. Nitas Hand mit ein paar Pillen, die sie Rena entgegenstreckt. «Nimm ein bisschen Speed. Das ist besser als Nachhilfe in Mathe.»
Wir hätten ihr die Stunden gewähren müssen. Sie hatte gelitten unter ihren schlechten Noten. Gelitten unter dem Bewusstsein, nicht mit Anne Schritt halten zu können, immer nur die Kleine, die Dumme zu sein. Die, von der nichts erwartet wurde, die nicht gewollt war. Sie hatte sich bemüht, uns zu imponieren. «Ich habe eine Eins in Religion bekommen.»
«Hast du vor, Bischof zu werden?», hatte Jürgen gefragt. Und gelacht hatte er. «Da wirst du dich umtaufen lassen müssen. Wir sind in der falschen Kirche. Für den Papst sind Frauen nur die zweite Garnitur.»
Am Morgen hatte ich das Gefühl, ich hätte überhaupt nicht geschlafen. Anne verließ das Haus zur gewohnten Zeit. Mir fiel auf,dass ich ihr nachstarrte und mir einprägte, welche Kleidung sie trug. Schwarze Jeanshose, gemusterte Bluse – graue Rosen auf hellem Untergrund. Beigefarbene Windjacke und Sportschuhe.
Kurz nach acht ging auch Jürgen zur Scheune. Minuten später rollte der BMW vom Hof. Er musste früher in der Praxis sein. Sandra Erken hatte ihm zwar am vergangenen Nachmittag zur Verfügung gestanden, dafür aber den Vormittag als Ersatz verlangt. Sie musste mit ihrem Söhnchen zum Kinderarzt, Routineuntersuchung. Und es standen zwei Blutabnahmen an, meine Arbeit, die nun Jürgen übernehmen musste.
Ich ging ins Bad, machte danach Ordnung in unserem Schlafzimmer und der Küche. Um neun hätte ich losfahren können, doch die Vorstellung, an Vaters Bett zu sitzen und einen wichtigen Anruf zu verpassen …
Ich lief im Haus herum. Ein großes Haus. Sieben Räume im ersten Stock. Vier Schlafzimmer, drei Bäder. Renas Zimmer hatte kein Bad, nur die kleine Dusche. Die Ecke war vom Zimmer abgetrennt worden, weil Anne sich geweigert hatte, das Bad mit ihr zu teilen. «Tu mir das nicht an, Mutti. Du weißt genau, dass sie sich nicht darum kümmert, ob sie ihre oder meine Zahnbürste benutzt. Und meinen Kamm! Und mein Handtuch! Wenn sie mit Nita durch die Gegend zieht, bitte, das ist ihre Sache. Aber ich will mir nicht irgendeinen Ausschlag oder sonst etwas holen, weil sie Mein und Dein nicht unterscheiden kann.»
Ich sah Renas Gesicht vor mir, hörte ihre Stimme, die Bitterkeit, die sie mit gleichgültiger Kälte zu vertuschen suchte. «Reg dich bloß nicht auf. Für die paar Jahre, die ich noch bei euch bin, brauche ich kein Bad. Wenn ich achtzehn bin, haue ich ab. Nita und ich gründen eine WG. Janet und Wiltrud machen auch mit.»
Wie mochte sie uns gesehen haben in den Wochen vor dem Umzug? Ich musste es wissen, saß bis halb elf auf ihrem Bett und las von gestohlenen Blusen, von Speed und Nadeln, die Nita sich nicht in die Adern, nur ins Fleisch stach. Immer das Gleiche. Hin undwieder ein Sätzchen über uns, beiläufig und nichtssagend. Als ob wir Fremde für sie gewesen wären. Leute, mit denen sie gezwungenermaßen in derselben Wohnung leben, deren Gepflogenheiten sie sich anpassen, deren Diktaten sie sich beugen musste.
Papa hat sich wieder einen neuen Schlitten zugelegt. Nita wollte mit einem Nagel ran. Ich hab’s ihr ausgeredet. Papa kriegt einen Herzinfarkt, wenn ihm einer den Lack zerkratzt. Ich habe zu Nita gesagt: Mach das lieber bei deiner Mutter. Bei der Sonderlackierung lohnt sich das wenigstens. An so ’nem mickrigen BMW macht’s doch keinen Spaß, da geht man mal mit der Sprühdose drüber, dann siehst du nichts mehr. Uwe hat sofort zugestimmt: ‹Das ist ’ne tolle Idee. Wir machen’s bei deiner Mutter.› Nita hat nur gelacht.
Hurra! Sturmfreie Bude. Ich habe ein paar Flaschen besorgt, nur Bier. André will Joints mitbringen. Hoffentlich kriege ich den Geruch wieder raus, bevor die Family zurückkommt. Sie machen Pflichtbesuch bei Adolf und Helene von und zu. Ich brauchte nicht mit. Ich musste nicht mal fragen, ob ich daheim bleiben darf. Mutti sagte, sie sieht mir an, dass ich keine Lust habe, und zwingen will sie mich nicht. Eigentlich müsste ich sie bewundern, wie sie es immer schafft, die Wahrheit zu verdrehen. Wenn ich dabei bin, macht
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