Die Mutter
Helene nur Stunk. Jetzt kann sich unsere Adelige an Anne ergötzen.
Mich kotzt das an. Mutti hat wieder eine halbe Stunde auf mir rumgehackt, weil der Haarlack beim Waschen nicht aus dem Kopfkissen gegangen ist. Warum wäscht sie meinen Kram überhaupt noch? Mich stört das nicht, wenn es ein bisschen riecht. Es riecht wenigstensnach mir. Nita sagte: Pinkel deiner Mutter doch ins Parfüm, dann riecht sie auch nach dir.
Rebellion. Und ich hörte Jürgen sagen: «Es ist das Alter. Es wächst sich aus, Vera.» Es hatte nie etwas mit dem Alter zu tun gehabt. Es war das Wissen: Mich haben sie nicht gewollt!
In der Diele blieb es still. Ich kam zu der Überzeugung, dass niemand anrufen würde, nicht an diesem Tag. Dass Nita und Menke sich erschrocken hatten, als Vater zusammenbrach und Mutter zu schreien begann. Kurz nach elf ging ich zur Scheune.
Eine halbe Stunde später stand ich an Vaters Bett. Mutter saß daneben. Sie hatte keinen Blick für mich. Vater schlief, sie hielt seine Hand, strich ihm hin und wieder über die Stirn, flüsterte ihm etwas zu. Nach einer Viertelstunde machte ich mich auf die Suche nach dem behandelnden Arzt und unterhielt mich kurz mit ihm. Aber was konnte er mir schon sagen? Dass sie alles getan hatten, was in ihrer Macht stand. Dass alles Weitere von Vater abhing, von seiner Kraft, seinem Willen.
Und wieder stand ich da. Wieder dachte ich: Gestern um diese Zeit. Nach einer Ewigkeit drehte Mutter mir das Gesicht zu.
«Heute Morgen war er bei Bewusstsein. Er hat auf dich gewartet.»
«Warum bist du nicht ans Telefon gegangen?»
Ihre Miene wurde steif, die Augen eng.
«Wenn er stirbt», sagte ich, «ist es deine Schuld. Wegen deiner Verrücktheit musste er sich die Treppe herunterquälen. Wegen deiner blödsinnigen Angst musste er sich irgendeinen Quatsch anhören.»
«Mach, dass du rauskommst!», zischte sie.
«Ich habe dasselbe Recht wie du, hier zu sein. Ich liebe ihn. Weißt du, was das ist, Liebe? Es ist ein Gefühl, als ob das Herz stehen bleibt, wenn einem etwas weggenommen wird, was man zum Leben braucht. Eigentlich müsstest du es wissen, du hast es ja aucherlebt. Aber verdammt, du hattest einen Mann und ein Kind, als es dir passierte. Du warst eine erwachsene Frau. Ich war erst zwölf, als du mir gesagt hast: Dein Vater ist ein Mörder. Warum hast du das getan? Konntest du es nicht ertragen, dass ich ihn liebte? Oder musstest du mir nur den Boden unter den Füßen wegziehen, weil du auch keinen hattest?»
«Raus hier!» Sie zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Tür. Ich holte mir einen Stuhl und setzte mich auf die andere Seite an Vaters Bett. Wenig später kam Jürgen. Wir blieben nicht mehr lange. Als wir zum Parkplatz gingen, wollte Jürgen wissen, warum die Luft so dick gewesen sei.
«Sie war nicht dicker als sonst», sagte ich.
Wir fuhren heim. Anne kam aus der Schule. Ich briet drei tiefgefrorene Koteletts zu Mittag, kochte die Kartoffeln und den Rosenkohl. Um halb drei fuhr Jürgen zurück in die Praxis, Anne ging in ihr Zimmer, um ein paar wichtige Arbeiten für die Schule zu erledigen. Ich lief von der Küche in die Diele, von der Diele in die Küche, wieder zurück und fragte mich, ob doch jemand angerufen hatte während meiner Abwesenheit.
Der Nachmittag kroch wie eine Schnecke durchs Salatbeet und hinterließ eine Schleimspur an Vorwürfen. Ich hasste mich für den erneuten Angriff auf Mutter. Ich wusste, dass es meine Schuld war, nicht ihre. Ich hatte Angst, Vater könnte sterben, und wahnsinnige Angst vor Nadeln, die Nita nicht nur in ihr eigenes Fleisch stieß, sondern die sie an Rena weiterreichte. Nur um mich irgendwie abzulenken, setzte ich mich an den Esstisch und begann alles aufzuschreiben. Diesen harmonischen Sonntagnachmittag im Mai, Urlaub, Geburtstag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag.
Um vier fragte Anne, ob sie Patrick anrufen dürfe. «Bitte, Mutti, ich muss ihn rasch etwas fragen.»
«Aber mach’s kurz», sagte ich und zitterte bei der Vorstellung, dass Rena genau in diesem Augenblick in einer Telefonzelle stand. Dass Nita Kolter und André Menke ihr erst jetzt gesagt hatten, dahätte gestern jemand gebrüllt. Dass Rena nun ängstlich und besorgt nachfragen wollte, was daheim geschehen sei. Und die Leitung war besetzt.
Sie war es höchstens zwei Minuten. Dann fragte Anne bereits, ob ich etwas dagegen hätte, wenn sie zu Patrick führe. «Er holt mich gleich ab, Mutti. Aber wenn es dir nicht recht ist, wir können auch hier
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