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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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entschied.
    Manchmal wunderte ich mich, hätte ihr solche Gedankengänge nicht zugetraut. Wie ein Psychologe hatte sie ihre Gefühle und Beweggründe analysiert und vermutet, dass Mattho ihr nur deshalb so viel bedeutete, weil das Tier ihr nichts abverlangte, was sie nicht geben konnte. Weil sie sich von Nitas Ansprüchen überfordert fühlte. Weil Hennessen gesagt hatte: «Man muss auch mal an sich selbst denken. Man kann sich nicht immer nur drum kümmern, ob es den anderen gut geht.»
    Von da war es nicht weit bis zu dem Gedanken: Und als das Pferd aus ihrem Leben verschwand   … Aber ich lernte umzugehen mit dem Gedanken an den grauen Kleinbus. Wenn ich vorsichtig jonglierte, schaffte ich es bis zu der Gewissheit, dass ein paar tausend Mark nicht ewig reichten, weil Nadeln teurer sind als Pommes und Benzin.
    Bei Nita sein hieß nicht gleichzeitig, dass sie Nita in die Sucht folgte. Und selbst wenn es dazu kam, ein paar Tage, vielleicht auch Wochen konnten einen Körper nicht so vergiften und ruinieren, dass der Schaden irreparabel war. Ein Arzthaushalt musste mit einem Entzug zurechtkommen. Und Vaters Genesung musste im Augenblick den Vorrang haben. Immer einen Schritt nach dem anderen. Wer zu schnell laufen will, stolpert nur über die eigenen Füße.
    Vormittags fuhr ich ins Krankenhaus, lieferte die frische Wäsche ab, nahm die getragene mit und erwiderte Mutters giftige Blicke. Während der Fahrt nahm ich mir jedes Mal vor, mich bei ihr zu entschuldigen. Aber wenn ich sie sah   … Es ist nicht leicht, das Päckchen allein auf die eigenen Schultern zu nehmen und alle anderen von jeder Schuld freizusprechen. Da betete ich lieber wie ein Kind um Vaters Leben.
    Nachmittags hockte ich vor der Waschmaschine, ich konnte stundenlang in die laufende Trommel starren. Oder ich lief im Haus herum, putzte da ein halbes Fenster, hob dort ein paar Fussel von einem Teppich auf und entfernte mit Küchenkrepp den einen oder anderen Fleck vom Fußboden. Ich gewöhnte mich daran, die Diele so zu durchqueren, dass der größtmögliche Abstand zu Telefon und Anrufbeantworter gewährleistet war. Nur keinen Blick auf die Null werfen.
    Am Donnerstagabend war kein Brot mehr da. Jürgen verzog keine Miene. Er fuhr in die Stadt und besorgte in einem Supermarkt etwas frischen Aufschnitt und ein paar Pakete Bauernschnitten.
    Freitags regnete es, während ich an Vaters Bett saß. Mutter verließ das Zimmer, als ich kam. Vater war bei Bewusstsein und quälte sich ab, mir etwas zu sagen. Sosehr ich mich auch bemühte, ich verstand nur Gurgeln. Es war grauenhaft, sein schiefes Gesicht, die Lippen, die ihm nicht gehorchen wollten, die Zunge, die ein wildes Eigenleben führte.
    «Streng dich nicht an», sagte ich. «Bitte, streng dich nicht so an.»
    Sein Kopf geriet in ruckartige Bewegung, als er mir signalisierte, es sei wichtig und lohne jede Anstrengung. Seine linke Hand strich Zacken in das Laken, Daumen und Zeigefinger legten sich aneinander. Endlich verstand ich. Er wollte etwas aufschreiben.
    Ich hatte ein Notizbuch in der Handtasche und einen kleinen, dünnen Kugelschreiber, ein Geschenk von Jürgen, nicht viel dicker als ein Strohhalm. Das Ding sah elegant aus und war äußerst unpraktisch. Ich erinnerte mich nicht, jemals damit geschrieben zu haben. Die Tinte war eingetrocknet. Ein Blatt im Notizbuch ging für Kringel und Schleifen drauf. Endlich die erste Linie. Ich drückte den Kugelschreiber zwischen Vaters Finger.
    Er konnte ihn nicht halten. Noch einmal vergingen ein paar Minuten, in denen er sich mit unbeholfener Gestik und weiteren Gurgellauten abmühte, mir klarzumachen, wie wir zu einem verständlichen Satz auf dem Papier kämen.
    Es war ein einfaches und zeitraubendes System. Ich sagte langsam das Alphabet auf, Vater horchte konzentriert und gab irgendwann ein Zeichen mit der linken Hand. Stopp! Mit den ersten Worten konnte ich nicht viel anfangen. POLIZEI WICHTIG UHR. Danach bekam die Aktion einen Sinn. Ich schrieb ein M, ein A, ein N und noch eins. MANN! Vater nickte zufrieden. Die nächsten Worte: JUNG und WEINT!
    Menke, dachte ich. Vater hob zwei Finger zu einem   V.   Aber als ich den Buchstaben nannte, winkte er heftig ab und ruderte die Hand mit den abgespreizten Fingern über das Laken. Ich begriff erst, was er meinte, als er den Mittelfinger zurücknahm und stattdessen den Daumen hochreckte.
    «Zwei?», fragte ich. Er nickte zögernd.
    «Zwei Männer?» Heftiges Abwinken. Er gab mir zu verstehen, dass er

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