Die Mutter des Erfolgs - Die Mutter des Erfolgs
jedenfalls äußerlich. Wir hatten beide zwei Abschlüsse von Harvard (sie wegen ihrer Doppelpromotion in Medizin und Geisteswissenschaften eigentlich drei), hatten beide einen jüdischen Ehemann, hatten beide eine akademische Laufbahn eingeschlagen wie unser Vater und hatten beide zwei Kinder.
Ein paar Monate, bevor sich Lulu die Haare absäbelte, erhielt ich einen Anruf von Katrin, die in Stanford lehrte und ein Labor führte. Es war der entsetzlichste Anruf meines Lebens.
Sie schluchzte. Sie sagte, man habe bei ihr eine seltene, höchstwahrscheinlich tödliche Form von Leukämie festgestellt.
Unmöglich, schoss es mir durch den Kopf. Der zweite Fall von Leukämie in meiner Familie – meiner glücklichen Familie?
Aber es stimmte. Schon seit Monaten hatte Katrin unter Erschöpfung, Übelkeit und Atemnot gelitten. Als sie endlich zum Arzt ging, waren die Ergebnisse der Blutuntersuchung eindeutig. Ein grausamer Zufall wollte, dass ihre Form von Leukämie von genau derselben krankhaften Zellveränderungausgelöst wurde, die sie in ihrem Labor untersuchte.
«Ich werde wahrscheinlich nicht mehr lang leben», sagte sie weinend. «Was wird aus Jake? Und Ella wird mich gar nicht kennen.» Katrins Sohn war zehn, die Tochter noch kein Jahr alt. «Du musst ihr sagen, wer ich war. Versprich es mir, Amy. Ich muss noch ein paar Fotos machen lassen …» Sie konnte nicht weitersprechen.
Ich stand unter Schock. Ich konnte es einfach nicht glauben. Ein Bild von Katrin mit zehn kam mir in den Kopf, und es ließ sich unmöglich mit dem Wort «Leukämie» in Verbindung bringen. Was hatte das mit Katrin zu tun – mit Katrin ? Und meine Eltern! Wie sollten sie damit zurechtkommen – es würde sie umbringen.
«Was genau haben die Ärzte gesagt, Katrin?», hörte ich mich in seltsam zuversichtlichem Ton fragen, wieder ganz die große Schwester, die Zupackende, Unverwundbare.
Aber Katrin gab keine Antwort. Sie müsse aufhören, sagte sie. Sie werde mich wieder anrufen.
Zehn Minuten später bekam ich ein Mail von ihr: «Amy, es ist wirklich sehr, sehr schlimm. Sorry. Ich brauche eine Chemotherapie, dann, wenn möglich, eine Knochenmarkspende, dann noch mal Chemo, und das Ganze mit geringen Überlebenschancen.»
Sie ist Wissenschaftlerin; sie hatte natürlich recht.
26 Rebellion, Teil 2
Am Tag nach dem Haarschnitt ging ich mit Lulu zum Frisör. Auf dem Weg dorthin wechselten wir kaum ein Wort. Ich war angespannt, und es ging mir viel durch den Kopf.
«Was ist passiert?», fragte die Frisörin.
«Selbstversuch», kommentierte ich knapp. Es gab keinen Grund, ein Hehl daraus zu machen. «Lässt sich da was machen, damit es besser aussieht, wenn es rauswächst?»
«Wow – da hast du wirklich ganze Arbeit geleistet, Schätzchen», sagte die Frau zu Lulu und betrachtete sie neugierig. «Wie bist du denn auf die Idee gekommen?»
«Oh, das war ein Akt jugendlicher Selbstzerstörung, der hauptsächlich gegen meine Mutter gerichtet war», hätte Lulu darauf antworten können. Den Wortschatz dafür besaß sie und die nötige Selbstreflexion ebenfalls.
Stattdessen sagte Lulu in heiterem Ton: «Ich hab versucht, es zu stufen. Aber ich hab’s verpfuscht.»
Später, zu Hause, sagte ich: «Lulu, du weißt, dass Mama dich liebt, und dass ich alles, was ich tue, für deine Zukunft tue.»
Ich fand selbst, dass ich mich unecht anhörte, und das muss sich auch Lulu gedacht haben, denn ihre Antwort lautete, in flachem, apathischem Ton: «Klasse.»
Jeds fünfzigster Geburtstag stand bevor. Ich organisierte ein riesiges Überraschungsfest, zu dem ich alte Freunde aus seiner Kindheit und allen Bereichen seines Lebens einlud. Ich bat alle Gäste, eine witzige Geschichte über Jed mitzubringen, und schon Wochen im Voraus trug ich Sophia und Lulu auf, selbst eine kleine Tischrede zu verfassen.
«Es darf aber nicht einfach hingeschludert werden», befahlich. «Es muss wirklich was aussagen. Und es darf nicht formelhaft sein.»
Sophia machte sich gleich ans Werk, Lulu hingegen sagte: «Ich will keine Tischrede halten.»
«Du musst », antwortete ich.
«Niemand in meinem Alter hält Reden», sagte Lulu.
«Weil sie alle aus schlechten Familien sind», gab ich zurück.
«Weißt du eigentlich, wie verrückt du dich anhörst?», fragte Lulu. «Sie sind nicht aus ‹schlechten› Familien. Was soll denn eine ‹schlechte› Familie überhaupt sein?»
«Lulu, du bist so undankbar. Als ich so alt war wie du, hab ich rund um die Uhr
Weitere Kostenlose Bücher