Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
selbstständiges Leben
realistisch wohl nicht zu erwarten ist.
»Ich vermute, der Mann wird sie finden«, verbessert
sie.
»Nicht zu bald, hoffentlich.«
Sydney lächelt. »Nein, nicht zu bald.«
Sydney stellt fest, dass die Topografie des Strandes bei Tag eine völlig
andere ist. Am vergangenen Abend, als sie am Wasser gestanden hat, schienen die
Häuser weit entfernt. Heute Morgen sind sie so nahe, dass sie stören.
»Was lieben Sie ?«, fragt Jeff.
Nicht vorbereitet auf diesen Konter, kann Sydney keinen klaren Gedanken
fassen. Sie drückt eine Hand an die Schläfe. Sie könnte mit Leichtigkeit sagen,
was sie einmal geliebt hat, aber Daniel lebt nicht mehr.
»Ich mag das hier«, sagt sie mit einer begleitenden Geste.
»Den Strand?«
»An ihm spazieren zu gehen. Ihn zu betrachten.« Sie spürt Hitze in ihrem
Gesicht. Das war eine lahme Antwort. »Ich bin gern mit Julie zusammen und mit Ihrem
Vater. Ich mag Kajakfahren…«
Beinahe hätte sie und Bodysurfing gesagt. Sie
tut es nicht, sie möchte nicht an den vergangenen Abend erinnert werden, an diese
schlängelnde, schlüpfrige Berührung. Sie wird sich bewusst, dass sie bei ihrer Aufzählung
der Menschen und Dinge, die sie liebt, weder Ben noch Mrs. Edwards genannt hat.
Sie bezweifelt, dass Jeff ihr geglaubt hätte, wenn sie es getan hätte. Nach einem
Abend und einer Nacht im Haus muss er eine gewisse Geringschätzung in Mrs. Edwards’
Ton bemerkt haben, wenn sie mit Sydney spricht; und eine gewisse Unaufrichtigkeit
in Sydneys Ton, wenn sie antwortet.
Sydney beschließt, Jeff nicht zu fragen, was er liebt. Ob er wohl Victoria
sagen würde?
»Das Studium hat Ihnen vermutlich Spaß gemacht«, sagt Jeff nach einiger
Zeit.
»Das stimmt.«
»Werden Sie weitermachen?«
»Ich weiß nicht. Mir gefiel die Vorstellung, dass mein Leben darauf basierte,
Fragen zu stellen. Und Antworten auf diese Fragen zu finden. Ich glaube wahrscheinlich
daran, dass Wissen auf lange Sicht wichtiger ist, als einen Haufen Geld zu haben.«
Sydney lacht. »Und das ist gut so, denn ich werde nie welches haben.«
Jeff lächelt.
»Ich könnte dieses Ziel vermutlich auf jedem Gebiet erreichen, wenn ich
fleißig genug wäre«, fährt sie fort. »Biologie oder Chemie, zum Beispiel. Also läuft
es wahrscheinlich eher darauf hinaus, dass mich die Frage fasziniert, was die Menschen
bewegt.« Sie zuckt mit den Schultern. »Vielleicht hatte ich auch nur die größenwahnsinnige
Vorstellung, mein kleines Scherflein zum menschlichen Wissensschatz beizutragen.«
»Ah, mit Größenphantasien kenne ich mich aus«, sagt Jeff.
Sydney bemüht sich, ihren Schritt dem Jeffs anzupassen. »Was macht Ihr
Vater eigentlich beruflich?«, fragt sie.
Es ist bemerkenswert, dass ihr das bis jetzt niemand gesagt hat. Sie
hat nicht fragen wollen, für den Fall, dass Mr. Edwards ohne Beschäftigung ist – zu reich, um arbeiten zu müssen, kürzlich mit hoher Abfindung von einem Managerposten
zurückgetreten oder auch schlicht im Ruhestand.
»Er ist Architekt.«
Sydney bleibt überrascht stehen. Sie denkt an das Haus. Keine architektonischen
Modelle, keine gerahmten Zeichnungen – jedenfalls hat sie keine bemerkt. »Darauf
wäre ich nie gekommen«, sagt sie.
»Er hat sein Büro in Boston. Oder hatte. Jetzt arbeitet er die meiste
Zeit zu Hause.«
»Ich würde gern etwas von ihm sehen.«
»Möglich, dass er einige von seinen Arbeiten bei sich im Zimmer hat.
Aber um die Modelle und die Zeichnungen zu sehen, müssten Sie nach Needham kommen.
Sie sind sehr schön.«
»Ich glaube nicht, dass mir schon einmal ein Mensch begegnet ist, der
es schafft, wochenlang kein Wort von seinem Beruf zu sagen.«
»Sie könnten zwei Jahre mit meinem Vater bekannt sein, und er würde nichts
sagen, wenn Sie nicht fragten.«
»Das ist ungewöhnlich heutzutage, wo die Menschen so oft an dem gemessen
werden, was sie tun, und daran, ob sie Erfolg haben.«
»Meinem Vater ist das egal.«
»Und wie ist es bei Ihnen?«
»Bei mir? Ach, da wüssten Sie innerhalb einer Woche Bescheid.«
»Und bei Ben?«
»Noch vor Ende des Tages.«
Sydney und Jeff erreichen das andere Ende des Strands, wo eine Menge
Tang herumliegt. Als sie umkehren, hechelt Tullus, die Leine ist nicht mehr so straff
gespannt, das Tempo gemächlicher.
»Ich frage mich«, sagt Jeff, »kann man die emotionale Entwicklung wirklich
quantifizieren?«
»Kann man aus Politik eine exakte Wissenschaft machen?«, gibt Sydney
zurück.
Jeff bückt sich und lässt Tullus
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