Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Botolph Street. Ben horcht merklich auf, als er etwas
von einer möglicherweise zum Verkauf stehenden Immobilie hört.
Sydney beobachtet über den Tisch hinweg Julie. Sie wirkt gedämpft. Vielleicht
sieht sie in Victoria eine Frau, wie sie niemals eine sein wird. Vielleicht stört
es sie, dass jemand, der nicht zur Familie gehört, Anspruch auf ihren Bruder erhebt.
Oder ist es einfach so, dass sie schon die Geräusche allgemeinen Aufbruchs zu Unternehmungen
im Ohr hat, zu denen man sie nicht auffordern wird? Sydney nimmt sich vor, sie nach
dem Mittagessen zu einem Spaziergang aufzufordern.
Sydney wird selten auf direktem Weg über kommende Ereignisse im Haus
informiert. Vielmehr wird von ihr erwartet, dass sie im Lauf des Tages ihre eigenen
Schlüsse zieht – aus Bemerkungen im Gespräch, aus dem Vorhandensein zusätzlicher
Tüten voll Gemüse auf der Granitarbeitsplatte oder, subtiler, aus der Tatsache,
dass Mrs. Edwards um drei Uhr ein zweites Mal duscht, damit ihr Haar für die abendlichen
Festlichkeiten frisch ist.
Heute wird beim Lunch erwähnt, dass zum Abendessen noch zwei Flaschen
Syrah gebraucht werden. Man debattiert über die Windstärke und ob es überhaupt möglich
ist, die Drinks auf der Veranda zu nehmen. Und diese Folge von Bemerkungen schließlich – Ferris trinkt nicht; Marisa mag Pellegrino; Claire hat gesagt,
dass Will nun doch kommen kann – führt dazu, dass Sydney auf eine Gesamtzahl
von dreizehn Personen zum Abendessen kommt, lange bevor sie am Speisezimmer vorübergeht,
wo schon drei Stunden im Voraus der Tisch sorgfältig mit Kristallglas, mit altem
Porzellan, das nicht zusammenpasst, und mit Damast (lauter Schnäppchen vom Emporia)
für genau diese Zahl gedeckt ist.
Victoria tupft sich anmutig den Mund und lobt das Essen. Sie, Jeff und
Ben wollen Tennis spielen. Jeff fordert Sydney zum Mitspielen auf, aber sie lehnt
ab, erklärt, sie spiele miserabel, was mehr oder weniger der Wahrheit entspricht.
Doch wieder macht das Zahlenverhältnis ihr zu schaffen.
»Ich spiele«, erbietet sich Mr. Edwards zuvorkommend wie immer.
Spielerische Fähigkeiten werden gegeneinander abgewogen. Ben und Mr. Edwards
werden gegen Vicki und Jeff antreten. Sydney schließt daraus, dass Ben der beste
Spieler unter den vieren ist.
Sydney macht den Abwasch immer nur einmal am Tag. Das hat sie sich zur
Regel gemacht, und sie bricht diese Regel nicht einmal im Notfall, wie zum Beispiel
am ersten Freitagabend ihres Aufenthalts, als bei einer improvisierten Cocktailparty
mehr als dreißig Gläser und Horsd’œuvres-Teller gespült werden mussten, ganz zu
schweigen von vier mit Käse verkrusteten Backblechen, auf denen Mr. Edwards in
aller Eile Crostini gebacken hatte. Sydney hatte die Geschirrspülmaschine an diesem
Tag bereits einmal geleert und neu geladen und zog sich deshalb einfach in ihr Zimmer
zurück, um sich auf WEEI das Sox-Spiel anzuhören. Auch heute setzt sie sich ab,
sie weiß, dass nach dem Abendessen noch viel auf sie zukommt. Sie hilft gern, aber
ihre Hilfsbereitschaft hat Grenzen.
Sydney tritt in ihr Zimmer und wird sofort von ihrer Trauer um Daniel
überwältigt. Einfach nur durch das Schließen der Tür ist ihr schlagartig bewusst
geworden, was sie verloren hat. Die Erwartung auf ein normales Leben. Einen Puffer
gegen die tote Stunde, die schnell näher rückt. Einen Aufschub der Notwendigkeit,
eine Zukunft neu zu gestalten, in die merkwürdig anderen Welten Fremder einzutreten. Sie drückt eine Hand auf ihren Magen, den der Schlag
am schlimmsten getroffen zu haben scheint.
Sie erinnert sich der besonderen Harmonie ihrer beiden Körper, wie ihr
Bein zwischen seine passte, wenn sie nach der Liebe beieinanderlagen, als wären
ihre Glieder eigens zu diesem Zweck geformt. Nie hat Daniel ein Zimmer durchschritten,
ohne ihr Gesicht anzusehen. Nie ist er von seinem Dienst nach Hause gekommen, und
wenn er auch noch so erschöpft war, ohne von Raum zu Raum nach ihr zu suchen, nur
im Gegenüber mit ihr fähig, Zugang zu einem normalen Leben zu finden.
Der Gefühlsaufruhr legt sich und hinterlässt eine Sehnsucht, nicht allein
gelassen zu werden. Sydney geht zum Toilettentisch mit dem Spiegel. Sie hat zwei
Hochzeiten gefeiert, eine in einer Kirche und eine in einem Tempel. Eine, bei der
ihre Mutter vor Freude geweint hat; eine, bei der ihr Vater insgeheim erfreut schien.
Mehr, denkt Sydney, kann eine Frau wahrscheinlich nicht verlangen. Noch eine Hochzeit,
das wäre gierig und eine Spur lächerlich.
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