Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
von der Leine. Der Hund schießt schnurstracks
ins Wasser, um eine Möwe zu jagen. Als er herauskommt, schüttelt er sich und versprüht
rundherum Wassertröpfchen.
»Was ich an Hunden liebe«, bemerkt Jeff, »ist, dass sie so berechenbar
sind.«
Auf dem Weg zurück zum Haus fällt Sydney auf, dass sich die ersten Familien
am Strand niedergelassen haben. Sie kommen an einer Frau vorüber, die auf einem
niedrigen Plastikstuhl sitzt und liest. Drei kleine Kinder graben zu ihren Füßen
ein Loch.
»Wann kommt Victoria?«, erkundigt sich Sydney.
»Vicki«, sagt Jeff. »Ich hole sie um Viertel nach elf an der Bushaltestelle
ab.«
Sydney nimmt eine kleine Veränderung an ihrem Bild von Victoria vor.
Eine Frau, die bereit ist, mit dem Bus zu fahren.
»Kennen Sie sie schon lang?«, fragt sie.
»Mein ganzes Leben. Ihre Familie kommt seit Jahren hierher. Ich glaube,
zum ersten Mal fiel sie mir im Segelkurs auf, als ich sechs oder sieben war. Damals
haben wir hier immer ein Haus gemietet.«
»Und seitdem sind Sie zusammen?«, fragt Sydney erstaunt.
»Nein.« Jeff lacht. »Wir sind uns letztes Jahr bei einer Benefizveranstaltung
in Boston wieder begegnet. Sie arbeitet beim Jimmy Fund. Das ist eine Krebsstiftung.«
»Ich weiß, was der Jimmy Fund ist«, sagt Sydney und hört selbst die leichte
Gereiztheit in ihrem Ton. Sie fühlt sich irritiert durch das sich ständig ändernde
Bild von Victoria – die Bus fährt, in Wirklichkeit Vicki genannt wird, mit sechs
Jahren Segelstunden genommen hat, bei einer Wohltätigkeitsorganisation tätig ist –, als passte ein Polizeizeichner das auf Zeugenaussagen beruhende Computerbild
ständig neuen Hinweisen an.
»Sie bekommt bestimmt immer prima Plätze im Fenway Stadion«, meint Sydney,
bewusst um einen leichten Ton bemüht.
»Das ist das Beste an ihrem Job«, stimmt Jeff zu.
Jeff ruft Tullus, der am Fuß der Holztreppe zu ihnen stößt.
»Jetzt erwartet er eine Belohnung«, erklärt Jeff. »Er glaubt nämlich,
er hätte uns spazieren geführt.«
Sydney steigt mit sandigen Füßen die Treppe hinauf und ist sich dabei
bewusst, dass Jeff nur Zentimeter hinter ihr ist.
Man hört im ganzen Haus, dass Victoria angekommen ist. Laute Stimmen.
Ein Ruf. Eine Begrüßung. Sydney sitzt zufrieden in der Küche und putzt Erdbeeren.
Mr. Edward liest die Gebrauchsanleitung für einen neuen Panini-Toaster, der vor
Kurzem von Federal Express geliefert worden ist. Sydney gefällt die kleine Falte
der Konzentration zwischen seinen Augenbrauen. Mr. Edwards legt das Blatt auf die
Arbeitsplatte; Sydney überlässt die Erdbeeren ihrem Schicksal. Sie gehen in die
Diele hinaus, um zu sehen, was der ganze Tumult zu bedeuten hat, obwohl sie beide
genau wissen, was der ganze Tumult zu bedeuten hat.
Victoria, mit langem, dunklem, welligem Haar, steht an der Haustür. Über
der Schulter trägt sie eine weiße Leinentasche mit Lederbesatz. Sie hat einen hellen
Sommerrock an, schräg geschnitten, aus dünnem Stoff. Ein kleines aquamarinblaues
Jäckchen mit Perlenknöpfen sitzt lässig über einem ärmellosen Top. Die gebräunten
schmalen Füße stecken in weißen Flip-Flops mit einem Schmuckstein über den großen
Zehen. Man erkennt sofort, dass Victoria Schönheit und Ernsthaftigkeit gegeben sind,
eine einnehmende Kombination. Sydney würde gern wissen, wo die Frau schlafen wird.
Victoria umarmt Mrs. Edwards. Mit viel Getue wird sie mit Wendy und
Art bekannt gemacht, die sich offenbar von Mrs. Edwards’ Strahlen haben anstecken
lassen. Victoria streckt einen langen, schlanken nackten Arm aus, das Handgelenk
leicht abgewinkelt, ihr Gegenüber scheinbar zu sich heranziehend. Es ist eine wundervolle
Geste, Sydney bewundert sie.
Sydney wartet mit verschränkten Armen. Mrs. Edwards sagt: »Julie kennst
du ja.« Victoria drückt das junge Mädchen kurz an sich, und dabei trifft ihr Blick
den Sydneys. Sydney lächelt und tritt mit ausgestreckter Hand vor.
»Ich bin Sydney Sklar«, sagt sie.
»Sydney ist für Julie da«, erklärt Mrs. Edwards rasch, eine so eklatante
Ungezogenheit, dass Mr. Edwards augenblicklich Wiedergutmachung versucht.
»Ich hoffe, für uns alle«, sagt er.
Mrs. Edwards scheint es gar nicht gehört zu haben. Ein kurzes peinliches
Schweigen wird zum Glück von Ben gebrochen. »Ich bringe das hinauf«, sagt er mit
einer Geste zu Victorias Reisetasche.
Hinauf wohin?, fragt sich Sydney wieder.
Mit gedämpften Entschuldigungen entfernt sich Victoria von der Gesellschaft.
Sie war
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