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Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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voranzukommen. Wieder wartet sie
auf die perfekte Welle. In der Ferne sieht sie sie kommen, das weiße Gekräusel.
Sie streckt die Arme vor sich aus und steht zum Sprung bereit. Als die Welle direkt
vor ihr ist, fliegt sie auf ihren Kamm.
    Wieder die Schwärze überall um sie herum, das Gefühl von Geschwindigkeit.
Sie spürt etwas unter sich, etwas Lebendiges. Es gleitet ihren Körper entlang, berührt
sie, betastet sie. Sie versucht, sich mit Gewalt aus der Welle zu befreien, aber
sie schafft es nicht. Sie würde schreien, wenn sie könnte.
    Es kostet sie unendliche Kraft, auf die Knie zu kommen. Ihr Mund und
ihre Nase sind voll Wasser. Sie steht auf und fällt. Sie muss aus dem Wasser hinauskriechen.
    War es ein Fisch?, fragt sie sich mit hämmerndem Herzen. Ein Hai?
    Sie lässt die Berührung in Gedanken noch einmal über sich hinweggleiten.
Sie erinnert sich an die schlüpfrige Bewegung über ihre rechte Brust, ihren Bauch,
ihr Schambein, ihren Oberschenkel. Eine flüchtige Berührung, aber doch vorsätzlich.
Sie ist jetzt sicher, dass es eine Hand war. Noch einmal ruft sie die Erinnerung
zurück. Schwierig, die Berührung auszuführen, daher muss sie vorsätzlich gewesen
sein.
    Sie steht auf dem Strand, nicht bereit zu rufen. An den Armen hat sie
Gänsehaut. Sie weiß nicht, wo ihre Kleider sind, wie weit die Dünung sie alle drei
den Strand entlanggeschoben hat. Links und rechts von ihr sind erleuchtete Fenster,
so weit ihr Blick reicht. Sie könnte zur Kaimauer hinaufgehen und ihr zum Sommerhaus
der Edwards folgen. Aber dann müsste sie im Badeanzug, klatschnass und mit sandigen
Füßen auf die Veranda treten.
    Es kann auch ein Fisch gewesen sein, denkt sie.
    »Hey!«, ruft jemand. »Sydney?«
    »Ich bin hier«, antwortet sie und räuspert sich. »Ich bin hier!«, ruft
sie noch einmal.
    Sie wartet, bis sie eine Gestalt auf sich zukommen sieht.
    Sie könnte fragen: Waren Sie das?
    Eine heimliche Berührung, da ist sie jetzt sicher, deren Urheber nicht
erkannt werden soll.
    Sie wartet auf ein Wort der Gestalt. Auch Ben taumelt.
    »Wahnsinn«, sagt er. »Das war phantastisch.«
    »Wo ist Jeff?«, fragt Sydney.
    Ben ruft nach seinem Bruder, wartet ein wenig, ruft wieder. Jeff gibt
Antwort, aber nur schwach, er ist ein ganzes Stück weiter den Strand hinunter gelandet
als Sydney.
    »Sie frieren«, sagt Ben und streckt den Arm aus.
    »Nein, kein Problem«, sagt Sydney und entzieht sich ihm.
    Dann war es also Ben, vermutet Sydney. Jeff ist einfach zu weit weg.

 
    AM NÄCHSTEN MORGEN schließt Nebel
sie ein. Kräftige Schwaden ziehen zwischen den Geländerpfosten hindurch, Wachposten
rund um das Haus. Der feuchte Dunst tropft in kleinen Bächen vom Fliegengitter,
die Luft selbst verflüssigt sich. Man könnte verstehen, wenn ein Asthmatiker unter
diesen Umständen fürchtete, er könnte ertrinken. In weniger als zehn Minuten verschwindet
die Küste. Der ganze Atlantische Ozean verschwindet. Sydney kann die Brandung hören,
aber sie kann sie nicht sehen. Käme jemand zu Besuch, er würde einfach glauben müssen,
dass es diesen phantastischen Blick gibt.
    Sydney tut die Familie leid, die nur einen halben Kilometer die Straße
hinunter am Strand wohnt. Sie hat das Festzelt gesehen, in der Einfahrt das Schild
mit der Aufschrift Hochzeit Christopher/Rapp . Sie vermutet,
dass man eine Hochzeit im Freien geplant hat, und fragt sich, ob die Gäste die Braut
am provisorischen Altar überhaupt werden erkennen können. Teure Frisuren werden
sich in Sekundenschnelle auflösen.
    Die Brüder gehen gemeinsam laufen. Sydney meidet die Diele, solange sie
dort sind. Bis jetzt ist ihr Timing ausgezeichnet, sie richtet es so ein, dass sie
erst in die Küche geht, als die Edwards mit dem Frühstück fertig sind, jedoch bevor
die Gäste herunterkommen. In der Küche liegen Krümel rund um den Toaster, die offene
Butterdose steht auf der Arbeitsplatte, Teller mit den Resten aufgeschnittener Birnen
stapeln sich im Spülbecken. Eine Kaffeetasse, schon mit Ringen, die an der Kante
der Kücheninsel steht, legt die Vermutung nahe, dass Ben seinen Frühstückskaffee
im Stehen getrunken hat. Woher weiß Sydney, dass von ihnen allen Ben derjenige ist,
der sein Frühstück im Stehen zu sich nehmen würde?
    In der gekiesten kleinen Einfahrt hinter dem Haus drängen sich die Autos:
Mrs. Edwards’ rostbrauner Volvo; Mr. Edwards’ Subaru Outback; Sydneys grauer Civic;
Bens schwarzer Land Rover. Sydney ist gespannt, was die Freundin für einen

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