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Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Sie könnte nicht in Weiß heiraten, keine
Geschenke erwarten, keinen Empfang geben. Ist sie also am Ende? Ist das alles vorbei?
Und wenn ja, was soll sie dann mit sich anfangen? Ärztin werden? Könnte sie bei
den Zulassungsprüfungen zur Medical School gut genug abschneiden? Könnte sie fliegen
lernen?
    Auf einem Tisch in einer Ecke des Wohnzimmers liegt frisch ausgeschüttet
ein Puzzle. Julie sitzt über tausend Teile gebeugt. Sydney hasst Puzzlespiele –
die Frustration, dieses quälende Gefühl, nichts Besseres zu tun zu haben, die Enttäuschung
am Ende, wenn das Bild eben doch kein Bonnard oder Matisse ist, sondern eine süßliche
Landschaft, die an Thomas Kinkade erinnert. (Die lähmende Langeweile der Sommer
in Troy, wenn man auf der Vortreppe aus Beton hockte, nachdem von Himmel und Hölle
über Murmeln bis zu Seilspringen alles gespielt und das Wechselgeld vom Einkauf
im Laden an der Ecke ausgegeben war. Mitte des Nachmittags, die tote Stunde, ihre
Freundin Kelly jammert über die Hitze, ihre Mutter schläft oben. Im öffentlichen
Schwimmbad war der Boden glitschig; Kelly weigerte sich, dorthin zu gehen. Eines
Nachmittags ging Sydney auf der Suche nach Schatten zum Ende der Straße. Sie ging
weiter bis zur nächsten und weiter und weiter und landete auf einem leeren Grundstück
mit einem Maschendrahtzaun. Ein Junge wollte ihr Zigaretten verkaufen und forderte
sie dann auf, ihre Shorts herunterzuziehen. Einfach so. Er würde ihr einen Dollar
dafür geben. Mit einem Dollar könnte man ein Eis kaufen. Sydney ging langsam davon,
die Schultern hochgezogen in Erwartung eines Schlags von hinten, und steuerte eine
Ecke des Zauns an, wo sich eine Öffnung befand, durch die ein schlankes Mädchen
hinausschlüpfen konnte. Als sie die Ecke erreichte, sah sie entsetzt, dass das Loch
repariert worden war. Sie drehte sich herum. Der Junge hatte selbst seine Hose heruntergelassen
und onanierte fieberhaft. Von Panik ergriffen, witschte Sydney an ihm vorbei und
rannte, als liefe sie um ihr Leben, und erst nachdem sie Andrew geheiratet hatte,
war sie fähig, das Wort Penis auszusprechen.)
    »Ich suche die ganzen Randstücke zusammen«, erklärt Julie.
    »Darf ich mitmachen?«
    »Sie können helfen.«
    Sydney setzt sich dem jungen Mädchen gegenüber und betrachtet den Deckel
der Schachtel. Ein Haus auf Felsen über dem Atlantik, dem Haus, in dem sie sich
befinden, hinreichend ähnlich, um die Motive des Käufers vermuten zu lassen.
    »Ich mache das Haus«, sagt Sydney. »Ich suche alle weißen und lege sie
zusammen.«
    Sydney kommt sich dumm und beschränkt vor. Zu viele Entscheidungen sind
hier verlangt. Ist dies ein Teil des Hauses oder Teil einer Möwe? Ist das ein Stück
von einer Schaumkrone oder einer Wolke?
    Sydney schaut auf und bemerkt, mit welcher Geschwindigkeit Julie Teil
um Teil entdeckt und auf die Seite legt. Innerhalb von Minuten, so scheint es, hat
sie alle geraden Ränder beisammen. Sie beginnt, sie zu einem plausiblen Rahmen zusammenzufügen.
    Sydney sieht staunend zu, wie Julie schnell und geschickt einen Rand
anordnet.
    »Julie«, sagt sie. »Ich möchte mal etwas mit dir versuchen.«
    Julie hebt den Kopf, um sie anzusehen, die Falte der Konzentration glättet
sich.
    »Ich möchte gern, dass du mit mir den Platz tauschst und alle Teile für
das Haus heraussuchst.«
    Julie neigt den Kopf zur Seite. Sie versteht nicht.
    »Ich mache immer so gern den Rand«, lügt Sydney. »Das ist mir das Allerliebste.«
    »Oh«, sagt Julie mit einigem Widerstreben. »Natürlich.«
    Nach dem Platztausch macht Sydney einen halbherzigen Versuch, einen Teil
des Rands zusammenzustellen. Heimlich beobachtet sie Julie. Mit scharfem Auge findet
Julie schnell die weißen Teilchen, die sie braucht, und hat innerhalb von Minuten
ein Haus in Stücken vor sich liegen. Mit sicherer Hand beginnt sie, die Teile umherzuschieben.
Immer wenn sie zwei hat, die zusammenpassen, verbindet sie sie miteinander.
    »Du bist wirklich gut«, bemerkt Sydney.
    In ihrem Zimmer sucht Sydney einen Packen Fotos heraus, die sie vor kurzem
beim Drugstore in Portsmouth abgeholt hat. Es sind größtenteils Bilder vom Strand,
vom Dorf und vom Haus. Sie nimmt sie mit hinunter ins Wohnzimmer und legt sie in
einem ordentlichen Stapel auf den Tisch.
    »Julie, ich würde gern noch etwas anderes mit dir versuchen«, sagt sie.
»Kannst du mal herkommen?«
    Julie dreht den Kopf und starrt Sydney an, als müsste sie das Bild erst
richtig scharf stellen. »Klar«, sagt

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