Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
paarmal ausrutschen, auf Tangbüscheln über die zackigen Granitfelsbrocken.
»Na also«, sagt Sydney, als sie sich niedergelassen haben.
Der Himmel ist türkisblau mit schnell dahinziehenden Schönwetterwolken.
Eine majestätische Brandung schlägt rhythmisch gegen die am wenigsten geschützten
Felsen. Zur Linken steht ein verlassener Leuchtturm, daneben zeigt sich, malerisch
im klaren Licht, das rote Dach, das zum Haus seines Wärters gehört. Sydney kann
sich ein Leben in solcher Isolation nicht vorstellen, Tag für Tag immer wieder ein
und dieselbe Aufgabe verrichten und dazu noch große Verantwortung übernehmen zu
müssen. Die Einsamkeit würde sie wahnsinnig machen.
Draußen auf dem Wasser arbeitet ein Hummerfischer mit dem Schleppnetz
in der Nähe einer Felsformation, von der mit der auslaufenden Flut immer mehr sichtbar
werden wird. Der Geruch des Meeres und die reine Luft sind stark, Sydney atmet sie
tief ein. Nicht weit von ihnen hat ein Sonntagsmaler seine Staffelei aufgestellt.
Bei der Szene kommt ihr eine Idee zu ihrer Arbeit mit Julie, die sie sich für Montag
merkt.
»Warum hast du solche Angst vor dem Wasser?«, fragt Sydney.
»Ich wäre einmal beinahe ertrunken.«
Das weiß Sydney schon, aber sie möchte mehr wissen. »Wie ist es dazu
gekommen?«
Julie scheint zu zögern.
»Ich möchte natürlich keine schlechten Erinnerungen wecken«, sagt Sydney.
»Nein, ist schon okay.« Julie holt Luft, um sich Mut zu machen. »Mein
Vater hat eines Tages nach einem schweren Sturm am Strand geangelt. Die Wellen waren
gigantisch.« Julie, die gern mit den Händen spricht, hebt sie hoch, um die Größe
der Wellen anzuzeigen. »Meine Cousine Samantha hatte ein Bodyboard dabei, aber sie
hat es nicht benutzt, weil sie vor den Wellen Angst hatte. Ich dachte, sie hätte
es nur mal einen Moment weggelegt und ich könnte es kurz nehmen.«
»Wie alt warst du?«
»Sieben. Samantha war neun, glaube ich. Ich bin ein Stück auf dem Brett
geschwommen, dann habe ich gespürt, wie ich aufs Meer rausgezogen wurde.« Sydney
merkt, wie sich Julie bei der Erinnerung verkrampft. »Ich wollte zurückschwimmen,
aber das ging nicht. Ich habe meinen Vater gerufen. Er hat sofort seine Angel fallen
lassen und ist ins Wasser gesprungen, um mir zu helfen. Als er beim Brett angekommen
war, sagte er, ich solle mich ganz festhalten. Aber dann merkte er, dass er uns
nicht reinbringen konnte – die Rückströmung der Brandung war zu stark für ihn. Er
brüllte Samantha an, die am Strand auf und ab sprang und kreischte, und schrie,
sie solle die Wasserwacht holen.
Sydney nimmt Julie in den Arm. »Du musst schreckliche Angst gehabt haben.«
»Ja, die hatte ich. Nach einiger Zeit kam der Mann von der Wasserwacht
mit seinem Surfbrett. Er zog mich drauf und sagte meinem Vater, er solle sich an
dem Seil festhalten, das er hinten dranhatte. Dann hat er uns reingebracht.«
»Das war ein schlimmes Erlebnis.«
Julie schweigt.
»Es heißt, dass man bei einer Brandungsrückströmung parallel zum Ufer
schwimmen soll, um aus der Strömung herauszukommen.«
»Kann schon sein«, sagt Julie. »Ich gehe jedenfalls nie wieder rein.«
»Wenn wir zu Hause sind«, sagt Sydney, »ziehen wir unsere Badeanzüge
an und gehen bis zu den Knöcheln ins Wasser. Nur bis zu den Knöcheln.«
Julie, beide Arme um die hochgezogenen Knie geschlungen, schüttelt den
Kopf. »Ich weiß nicht.«
»Tiefer gehen wir auf keinen Fall rein«, beharrt Sydney, die weiß, dass
sie penetrant ist. »Nur bis zu den Knöcheln. Es sei denn, du selbst willst bis zu
den Knien rein. Ich lasse dich bis zu den Knien reingehen, aber nicht tiefer.«
»Lieber nicht. Nichts für ungut.«
»Nichts für ungut«, sagt Sydney.
Der Wind legt sich, und das Wasser wird ruhig. Sydneys Badeanzug ist
noch feucht, weil sie ihn einfach im Schrank auf dem Boden hat liegen lassen. Gestern
Abend konnte sie nicht schnell genug aus ihm herauskommen. Jetzt wünscht sie, sie
hätte daran gedacht, ihn auszuwaschen. Er scheint nach Verstohlenheit zu riechen.
Nach Hinterlist.
Sydney hat Julie mehrmals auf der Sonnenterrasse in ihrem türkisblauen
Bikini gesehen. Der Anzug schien dort angemessen, auch wenn er knapp sitzt – Julie,
deren Haut von einem Sonnenblocker mit niedrigem Lichtschutzfaktor glänzt, wirkte
bekleidet. Jetzt, am Wasser, scheint der kleine Bikini nur ein erbärmlicher Schutz
gegen den Atlantischen Ozean.
»Nur bis zu den Knöcheln«, sagt Sydney.
Julie greift instinktiv nach Sydneys
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