Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Hand. Sydney spürt das schwankende
Gewicht des Mädchens, als dieses, selbst im niedrigen Wasser, mit der Unterströmung
kämpft. Julie wirkt schwerfällig in ihrer Angst, dennoch scheint sie Sydney eine
geborene Athletin zu sein – es hat mit dem Verhältnis ihrer Fußgröße zur Länge ihrer
Beine zu tun, mit der Kraft ihrer Schultern.
»Es ist eiskalt«, sagt Julie.
»Daran gewöhnt man sich.«
Im Wasser, das heute eine leicht grünliche Färbung hat, schwimmen Seetangfäden,
die manchmal ihre Beine streifen. Im Wasser gibt es auch, Sydney weiß das, Streifenbarsche,
Blaufischschwärme, junge Robben und sogar ungefährliche Haie – aber sie beschließt,
das dem Mädchen lieber nicht zu sagen.
Zwei kleine Jungen skimboarden am Strand entlang. Sie springen am Wasserrand
auf flache Bretter und reiten auf ihnen, manchmal überraschend lange Strecken. Sydney
weiß aus eigener Erfahrung und der Erinnerung an einen großen, schmerzhaften Bluterguss,
dass es nicht so einfach ist, wie es aussieht.
»Willst du’s mal bis zu den Knien versuchen?«
Sie erwartet Einwände von Julie, aber diese lässt, plötzlich mutig, Sydneys
Hand los und wagt sich allein weiter hinaus. Nach wenigen Schritten reicht ihr das
Wasser bis zu den Knien. Als eine Welle hereinkommt, schlägt das Wasser ihr über
die Oberschenkel. Sydney sieht sie erstarren und dann wieder locker werden, als
das Wasser zurückgeht.
»Wie geht’s?«, fragt sie, als sie an Julies Seite ist.
»Gut!«, ruft Julie so laut, als wäre Sydney fünfzig Meter entfernt. »Alles
okay.«
»Prima.«
»Wollen wir noch ein Stück weiter raus?«, fragt Julie.
»Nein. Das reicht.«
Julie und Sydney bleiben im Wasser stehen und schauen aufs Meer hinaus.
Einmal taucht Julie in eine Welle ein und schießt gleich darauf in die Höhe wie
eine Rakete. Das Wasser strömt an ihrem Körper herab. Oben fliegt eine Ultralight-Maschine.
Sydney kann den Piloten nicht erkennen, obwohl das Flugzeug tief über dem Wasser
hängt. Es gab eine Zeit, und so lange ist das noch gar nicht her, da hätte sie sich
gesagt, wie aufregend , aber die Zeiten sind vorbei. Sie
denkt flüchtig an ihren Flieger. Immer ruft der Anblick eines Flugzeugs, ob groß
oder klein, Gedanken an Andrew hervor. (An den Tag, an dem sie ihm beim Boston Marathon,
an dem sie nur aus einer Laune heraus teilgenommen hat, das erste Mal begegnet ist.
Sie hielt kurz vor der Stelle an, an der er ausgeschert war. Er stand mit vorgebeugtem
Oberkörper und rang keuchend um Atem. Sydney bot ihm ihre Wasserflasche an, und
er vollzog vor ihren Augen ein theatralisches körperliches Comeback, als wäre es
plötzlich sein Lebensziel geworden, sie zu beeindrucken.) Sydney vermutet, dass
es ihr Leben lang so bleiben wird. Sie hätte gern gewusst, was vielleicht bei Andrew
solche Erinnerungen hervorruft? Ein psychologisches Lehrbuch? Haare von einer Farbe,
die man nicht beschreiben kann?
Sydneys Beine sind so taub, dass sie keine Verbindung mehr zu ihren Füßen
hat. »Also, was meinst du?«, fragt sie Julie, deren Aufmerksamkeit einer jungen
Frau in einem nassen Surfanzug etwa fünfzehn Meter entfernt gilt.
»Sie ist gut«, antwortet Julie.
»Nein, ich meinte, ob wir gehen sollen.«
»Ach so. Ja, klar.« Sie sieht zu, wie die Frau sich auf eine Welle schwingt,
und legt die Hände um den Mund. »Klasse!«, ruft sie laut.
Als Julie und Sydney sich dem Strand zuwenden, der ihnen in der Zwischenzeit
entgegengekommen zu sein scheint, bemerkt Sydney Jeff, immer noch im weißen Tennisdress,
am Wasserrand. In der Hand hält er eine leere Flasche Poland Spring, mit der er
winkt.
Sydney fällt mit Schrecken ihr schäbiger Badeanzug mit den ausgeleierten
Beinen ein, der jetzt, im hellen Sonnenschein, viel mehr auffällt als am Abend.
Julie rennt aus dem Wasser, um ihrem Bruder die frohe Botschaft zu überbringen –
eine lebenslange Furcht ist überwunden. Oder beinahe überwunden. Sydney sieht zu,
wie Jeff seine Schwester an sich drückt, ohne Rücksicht darauf, dass sie sein Hemd
durchnässt.
»Wer hat gewonnen?«, fragt Sydney, als sie aus dem Wasser kommt.
»Die anderen«, antwortet Jeff. »Ben ist unschlagbar.«
»Ich hoffe, es hat Spaß gemacht.«
Jeffs Haar, das ihm schweißnass am Kopf klebt, ist jetzt dunkler. »Vicki
zieht gerade ihren Badeanzug an. Wir wollen eine Runde schwimmen. Wie ist das Wasser?«
»Eisig.« Sydney streicht sich das Haar aus der Stirn.
»Klingt gut.«
»Ich hole Badetücher«, verkündet Julie und
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