Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
läuft voraus. Ein Kind im Körper einer Frau , denkt Sydney, während sie ihr
nachblickt.
»Das ist toll, was Sie da eben gemacht haben«, sagt Jeff. »Jahrelang
hat keiner es geschafft, sie auch nur in die Nähe des Wassers zu lotsen.«
Sydney denkt bei sich: Ihr habt es wahrscheinlich
nicht ernsthaft genug versucht.
»Waren Sie dabei?«, fragt Sydney. »An dem Tag mit der Rückströmung?«
»Es war schrecklich.« Jeff schaukelt die leere Plastikflasche zwischen
dem zweiten und dritten Finger seiner rechten Hand auf und ab. »Hat Julie Ihnen
erzählt, was sie zu meinem Vater gesagt hat?«
»Nein.«
»Als mein Vater sie erreichte, hielt Julie sich an dem Bodyboard fest.
Sie sah ihm gerade in die Augen und sagte – unglaublich ruhig, wenn man die Situation
bedenkt –: Wir müssen sterben, nicht? «
»Hatte Ihr Vater Angst?«
»Ja, ich glaube schon. Er war ziemlich sicher, dass er es allein ans
Ufer schaffen würde, aber er hatte Angst, Julie würde das Brett loslassen und er
würde sie verlieren.«
»Entsetzlich.«
»Ich weiß noch, als Julie und mein Vater zu dem Haus zurückkamen, das
wir damals gemietet hatten, ging Julie geradewegs auf die Veranda hinaus und legte
sich dort bäuchlings auf den Boden. Niemand konnte sie dazu bringen, auch nur ein
Wort zu sagen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie vor dem heutigen Tag je darüber
gesprochen hat.«
»Für eine Siebenjährige, die glaubt, sterben zu müssen –«, beginnt Sydney.
Aber Jeff schaut nach oben. Sydney lässt ihren Blick folgen. Victoria
steht – sehr gepflegt, in einem Bikini und mit vielleicht einem klitzekleinen Stirnrunzeln – auf der kleinen Sonnenterrasse und blickt zu ihnen hinunter.
DRINKS AUF DER VERANDA. Die untergehende
Sonne hat das Wasser blasslila gefärbt. Eine Kerze in der Mitte des Teaktischs flackert
in der Brise. Sie wird ganz sicher ausgehen, denkt Sydney.
Sydney trinkt ein alkoholfreies Bier, genau wie Mr. Edwards. Mrs. Edwards
trinkt immer Rotwein, von dem sie eine Menge zu verstehen scheint. Jeffs Glas scheint
etwas Stärkeres zu enthalten, einen Gin Tonic vielleicht, während Victoria ein langstieliges
Champagnerglas in der Hand dreht. Den Champagner hätte Sydney voraussagen können.
Julie trinkt Cola, Ferris, der genesende Alkoholiker, Leitungswasser,
und Marissa, die mit Ferris da ist, San Pellegrino.
Vom Meer weht ein starker Geruch herüber. Es ist Ebbe, der Strand herrlich
breit. Die Eigentümer der Sommerhäuser, sagt sich Sydney, müssen das Gefühl haben,
bei Ebbe mehr Grund zu besitzen als bei Flut.
Sydney fällt auf, dass Julie schicker angezogen ist als sonst, unter
der knappen Strickjacke ein Trägerhemdchen, dessen blaue Seide sich über ihrem Busen
bläht. Ihre Jeans sind lang und schmal. Sie und Victoria, zwei schöne Frauen, sind
auf der Veranda die Hauptanziehungspunkte, von denen kein Auge lassen kann, zum
sichtlichen Ärger von Marissa, einer knochigen, aber durchtrainierten Rothaarigen,
deren Investition in ihr Aussehen sich heute Abend nicht auszahlt. Marissa schlägt
bald dieses Bein über jenes, bald jenes über dieses und streift schließlich ihr
eigenes Jäckchen ab, um ihre Reize zu zeigen. Ben zollt ihr eine gewisse Aufmerksamkeit,
aber dann schweift sein Blick zu Victoria und schließlich zu Sydney, sehr zu deren
Unbehagen. Sie ist in ihren dunkelblauen Shorts und der ärmellosen weißen Bluse
zu schlicht gekleidet für die Party. Den Blickkontakt mit Ben zu meiden ist schwieriger,
als sie gedacht hätte, obwohl sie auf der Treppe hockt, da für die dreizehn, die
diesen herrlichen Augustabend feiern wollen, nicht genug Stühle da sind.
Sie sitzt in der Nähe eines Paars, das sich ihr als Claire und Will vorgestellt
hat und die erwarteten Fragen stellt. Wo leben Sie? Geben Sie das ganze Jahr hindurch
Privatunterricht? Was haben Sie studiert? Sie antwortet so gut sie kann, aber ihre
Geschichte hat Lücken – es gibt Jahre, über die sie jetzt nicht sprechen möchte –, die das Paar nach einer Weile veranlassen, sich abzuwenden. Will steht auf und
bietet Sydney an, ihr Glas aufzufüllen. Als sie dankend ablehnt, entschuldigt sich
Claire und schließt sich einem Grüppchen an, das aus Mr. Edwards, Jeff und Art
besteht. Sydney hört die Wörter morgen und Fishfinder .
Sydney ist leicht verwundert über den Mangel an Körperkontakt zwischen
Jeff und Victoria. Kennen sie sich schon so lange, dass sie Berührungen in der Öffentlichkeit
nicht mehr nötig haben? Oder ist Jeff im
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