Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
kommen? Sogar Sydney weiß, dass sie vorhaben, am Montagmorgen den Bus nach
Boston zu nehmen und dort in den Acela, den Expresszug nach Manhattan, umzusteigen.
Mrs. Edwards sieht einen Moment lang völlig entsetzt aus.
Der Berg schmutzigen Geschirrs ist gigantisch. Jeff kommt in die Küche,
um seine Hilfe anzubieten, und niemand vertreibt ihn. »Dad, jetzt mache ich weiter.«
Er legt seinem Vater die Hand auf die Schulter. Mr. Edwards wirkt erschöpft, ein
Segel, das in der Flaute zusammenfällt.
Jeff krempelt die Ärmel seines blauen Oxfordhemds hoch. Sydney betrachtet
flüchtig seine Handgelenke.
Auf den Tellern glänzen rosa Fettaugen, die Sydney an Mrs. Edwards’
sich verhärtende Arterien erinnern. Die Kuchenteller verraten den unterschiedlichen
Geschmack der Esser an dem Gebäck, das, wie Sydney weiß, eine Fälschung war, eine
Backmischung, die mit Sprühsahne, fertigem Vanillepudding und Orangensaft angereichert
wurde, um einen selbst gebackenen Kuchen vorzutäuschen. Sydney hat die Rezepte in
Mrs. Edwards’ Kochbuch gesehen, die seltsamen Zutaten, die dort aufgeschrieben
sind: Zitronengötterspeise, klein geschnittene Snickers-Schokoriegel, Tomatensuppe
aus der Dose. Nach vier Bissen von ihrem Stück Kuchen gelangt Sydney zu der Erkenntnis,
dass weder Sprühsahne noch Fertigpudding den Nachgeschmack gekaufter Chemie überdecken
konnten.
Sydney entwickelt einen Widerwillen gegen die Essensreste der Gäste,
der jetzt ganz ungelegen kommt. Hat diese schmutzige Gabel Will im Mund gehabt?
Ist das Victorias Lippenstift? Jeff arbeitet, als hätte er schon einmal in einer
Restaurantküche geschuftet. An Organisationstalent kann er es mit Sydney aufnehmen,
aber vielleicht ist sie selbst auch ein wenig betrunken, und es scheint nur so.
Dutzende Gläser sind mit Lippen- und Fingerabdrücken verschmiert, ein kriminalistischer
Traum, wäre nur ein Verbrechen verübt worden.
»Wo ist Vicki?«, fragt Sydney.
»Oben. Sie hat sich hingelegt.«
»Geht’s ihr gut?«
»Wer hart arbeitet, will auch hart feiern.«
»Das ist wahr«, sagt Sydney, der es ein bisschen peinlich ist, dass sie
auf Victorias Zustand aufmerksam gemacht hat. Dass sie überhaupt Victorias Namen
erwähnt hat.
»Sie mögen sie nicht, stimmt’s?«, sagt Jeff.
Die Frage verblüfft Sydney durch ihre Abruptheit. Und durch ihre Scharfsichtigkeit.
»Doch, natürlich «, protestiert sie.
Aber das nachdrückliche natürlich , das einen
nicht verhandelbaren Makel unterstellt, verrät sie.
Der Raum zwischen Spülbecken und Kücheninsel ist beengt, und es bedarf
einer ausgeklügelten Choreografie, um zu verhindern, dass Sydney und Jeff einander
berühren. Sie weiß, dass eine solche Choreografie nicht nötig ist, wenn sie mit
Mr. Edwards zusammen das Geschirr spült.
Claire und Will bleiben unverschämt lange nach dem Essen, ein rätselhaftes
Verhalten, wenn man bedenkt, dass das Paar allem Anschein nach nur für sich sein
will. Wozu?, fragt sich Sydney. Um zu reden? Zu entspannen? Miteinander zu schlafen? Sports Center anzuschauen? Die Tatsache, dass sie anderen
so wenig zu sagen haben, ihre Beiträge zum Gespräch ausgesprochen lakonisch sind,
fasziniert Sydney.
Ben, Jeff und Sydney setzen sich mit den Edwards, die beide dringend
Schlaf brauchen, auf die Veranda. Mrs. Edwards versucht es mit feinen Andeutungen.
»Mark, du musst morgen früh aufstehen, damit du die Zeitungen noch bekommst.
Sie sind sonntags immer so schnell weg.«
Sydney steuert so gut wie nichts zum Gespräch bei, sie ist mit Gedanken
an Julie beschäftigt. Soweit erkennbar, teilt nur Jeff, der hin und wieder auf seine
Uhr sieht, ihre Besorgnis. Einmal neigt er sich zu ihr hinüber. »Hat Julie etwas
gesagt, wohin sie wollte?«, fragt er.
»Nein«, antwortet Sydney.
Um zwanzig vor elf legt Claire Will ihre Hand aufs Knie, und alle nehmen
es als Aufbruchssignal der Ehefrau an ihren Mann. In schöner Einigkeit stehen sie
auf, und Mr. Edwards bläst sogleich zum herzlichen Abschied. Es hat uns gefreut, dass Sie kommen konnten. Gemeinsame Bootsausflüge
werden vereinbart, aber ohne feste Daten und Zeiten, praktisch eine Garantie dafür,
dass die besprochenen Exkursionen nie tatsächlich stattfinden werden.
» Mein Geschmack waren sie nicht«, sagt Mrs. Edwards
in der Küche, reißt sich die Clips von den Ohren und knallt sie auf die Granitplatte.
»Er war doch ganz nett«, meint Mr. Edwards, der sich noch ein Glas Wasser
einlaufen lässt, um es mit nach oben zu
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