Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Julie.
»Julie?«, ruft Sydney.
Aber das junge Mädchen murmelt nur irgendetwas und schläft wieder tief
ein.
Nachdem sie Julie mehrmals geweckt hat, merkt Sydney, dass sie eine Tasse
Kaffee braucht, wenn sie die Nachtwache durchstehen will. Als sie sicher ist, dass
Julie ein fünftes Mal geweckt werden kann, geht sie nach unten. Ben ist nirgends
zu sehen, zu ihrer Überraschung jedoch sitzt Jeff noch im Wohnzimmer.
»Wie geht es ihr?«, fragt er, als Sydney die unterste Treppenstufe erreicht
hat. Er sieht blass und müde aus.
»Sie schläft, aber ich wecke sie vorsichtshalber jede halbe Stunde.«
Nicht nötig, zu erklären, warum sie das tut, auch Jeff liest Zeitung.
»Wo ist Ben?«
»Der hat sich hingelegt. Wir sollen ihn wecken, wenn wir eine Verschnaufpause
brauchen.«
»Ich glaube, ich mache jetzt mal Kaffee«, sagt Sydney.
»Setzen Sie sich. Ich mache ihn.«
Sydney macht es sich auf der untersten Stufe bequem, während Jeff die
Kanne mit Wasser füllt, das er in die Kaffeemaschine gießt. Als er das erledigt
hat, lehnt er sich mit den Händen in den Taschen an die Arbeitsplatte. Im Hintergrund
ist das unverwechselbare Zischen und Brodeln der arbeitenden Maschine zu hören.
»Hat sie Ihnen etwas gesagt?«, fragt er.
»Sie war auf einer Party. Den Namen der Person, die sie mitgenommen hat,
weiß sie entweder nicht oder will ihn nicht herausrücken. Es ist schwer zu sagen,
was sie weiß und was nicht.«
»Nicht Nick oder Joe?«
»Anscheinend nicht.«
»Sie passen auf sie auf, ja?«, fragt Jeff. »Ich muss morgen weg. Vielleicht
sollte ich mit meiner Mutter sprechen.«
Diese Idee findet Sydney gar nicht gut. »Ich denke, Sie sollten lieber
mit Julie sprechen«, meint sie.
»Sie ist so unschuldig«, erwidert er mit einem langsamen Kopfschütteln.
»Ja, das ist sie.«
Es gibt nach Sydneys Überzeugung nur sehr wenige Achtzehnjährige, die
man als unschuldig bezeichnen kann, aber auf Julie trifft
diese Beschreibung eher zu als auf sonst jemanden, an den Sydney sich erinnern kann.
Flüchtig macht sie sich Gedanken über die Wechselbeziehung zwischen Intelligenz
und Schuld.
Die Kaffeemaschine signalisiert mit den gewohnten Geräuschen, dass das
Gebräu fertig ist. Jeff füllt einen Henkelbecher und reicht ihn Sydney.
»Danke.«
»Ich komme in einer halben Stunde rauf und löse Sie ab. Dann können Sie
ein bisschen schlafen. Wenn nötig, wecke ich Ben.« Er hält inne. »Verzeihen Sie«,
sagt er. »Das vorhin war nicht in Ordnung.«
Sydney wird ganz heiß. Sie ist gewiss, dass Jeff jetzt von der Sache
auf den Felsen sprechen wird.
»Ich hätte von Ihnen nicht verlangen sollen, auf sie aufzupassen«, fährt
er fort. »Sie sind nicht für Julie verantwortlich.«
Sydney antwortet mit einer winzigen Verspätung. »Doch, das bin ich.«
»Sie sind jedenfalls nicht ihre Hüterin.«
Er will sagen, denkt Sydney, Sie gehören nicht zur
Familie .
»Und ich weiß nicht, ob meine Mutter oder mein Vater Ihnen das gesagt
hat«, fügt er hinzu, »aber Sie können sich natürlich jederzeit jemanden hierher
einladen, wen Sie wollen. Freunde.«
Das Wort klingt nach. Sydney würde Jeff gern erklären, wie es Frauen
ergeht, die einmal geschieden und einmal verwitwet sind. Die Freunde, die Sydney
mit dem Flieger zusammen hatte, gehörten mehr oder weniger zu ihm, und als die Ehe
auseinanderging, blieben die meisten ihm, wie nach einer Beuteteilung. Die Freunde,
die Sydney mit Daniel zusammen hatte, melden sich von Zeit zu Zeit bei ihr, aber
ihre Anrufe und Besuche sind immer traurig und gedämpft. Sie kann sich nicht vorstellen,
dass einer von ihnen sich diese Tortur gern noch einmal antun würde. Sydney hat
Freundinnen aus der Studienzeit – Becky, die jetzt in New York lebt, und Emily in
Boston –, aber sie kann sich nicht vorstellen, dass sie bis nach New Hampshire fahren
würden, um bei ihr in ihrer kleinen Kammer mit den schmalen Betten zu übernachten
und mit der Familie Edwards zu Abend zu essen.
»Vielleicht tu ich das«, sagt Sydney.
Jeff sieht ihr eine Sekunde länger in die Augen als nötig – oder vielleicht
sieht auch Sydney ihm eine Sekunde länger als nötig in die Augen; vielleicht auch
ist diese Sekunde absolut nötig, um Sydney wissen zu lassen, dass sie, auch wenn
sie nicht zur Familie gehört, keinesfalls allein ist – aber die Berührung auf den
Felsen wird mit keinem Wort erwähnt. Vielleicht, sagt sich Sydney, hat sie die entsprechenden
Signale vergessen, da sie seit mehr als zwei
Weitere Kostenlose Bücher