Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Jahren nicht mehr mit einem Mann zusammen
war.
Am Morgen scheint Julie über den vergangenen Abend nicht mehr zu
wissen als vorher in ihrer Trunkenheit. Nach einem langen Schlaf kommt sie in die
Küche, aber nur um sich Advil zu holen. Julie hat so fürchterliche Kopfschmerzen,
dass Sydney langsam anfängt zu glauben, sie hätte selbst welche.
Entschuldigungen werden vorgebracht. »Julie fühlt sich nicht wohl. Sie
war unten und ist gleich wieder nach oben gegangen.« Das sagt Sydney zu Mr. Edwards,
obwohl es ihr arg ist, einen Mann zu belügen, der sie wahrscheinlich nicht belügen
würde. Viel lieber würde sie sich ihm anvertrauen, ihn um Rat bitten, aber das entspricht
nicht dem Plan, für den Jeff, Ben und sie sich früh um sechs bei Hafergrütze entschieden
haben und von dem abzuweichen Sydney nicht zusteht.
Es war ein seltsames Trio, jeder von ihnen erschöpft, jeder mit der Frage
beschäftigt, ob sie aus der Geschichte vielleicht mehr machten, als daran war; oder
ob das Umgekehrte zutraf: dass sie sie nicht ernst genug nahmen, indem sie weder
Vater noch Mutter alarmierten. Sydney fühlte sich wie ein Matrose, der die ganze
Nacht an Deck gewesen ist. Die Hafergrütze schmeckte wie Sägemehl, aber, dachte
sie, sie schmeckte oft so. Unter ihnen schien unausgesprochenes Einvernehmen darüber
zu bestehen, dass für Julie, wenn sie die Nacht überlebt hatte, nichts mehr zu befürchten
war. Jemand würde sie später beiseitenehmen müssen, um ihr die Vorträge über pünktliches
Nachhausekommen, die Benutzung von Handys und die genaue Angabe von Namen und Orten
zu halten. Vielleicht würden die Gefahren des Alkohols abgehandelt, vielleicht ein
Verbot ausgesprochen werden. Vielleicht sollte jemand erwähnen, was Frauen passieren
kann, die im Beisein von Männern zu viel trinken, dass Männer Frauen auf eine Weise
missbrauchen können, die seelisch und körperlich gefährlich sein kann. Vielleicht
wird dieser Jemand Sydney sein.
Als Mr. Edwards aus dem Haus gegangen ist, um die Sonntagszeitungen
zu holen, tritt rosig und gesund Victoria in die Küche. Sydney würde gern wissen,
was für ein Zauberwasser die Frau benutzt, um diesen strahlenden Teint zu produzieren,
an dem der vergangene Abend so spurlos vorübergegangen zu sein scheint, dass man
an der eigenen Wahrnehmung zweifelt.
Victoria trägt ein gelbes Sommerkleid, und einen Moment glaubt Sydney,
sie habe sich aufgerafft, um zur Kirche zu gehen. Aber Victoria kramt stattdessen
im Kühlschrank und in den Schränken und stellt sich ein höchst appetitanregendes
Frühstück mit fruchtgefüllten armen Rittern zusammen, die sie aus Brioches vom Vortag
macht. Sie deckt den Tisch festlich mit dem elfenbeinfarbenen Porzellan und dem
Kristallglas. Sie gibt Sirup in einen antiken kleinen Krug und legt sich eine Leinenserviette
hin. Sydney kommt es vor, als wollte Victoria das Flair eines Bed-and-Breakfast-Frühstücks
herstellen.
Sydney tritt mit ihrem Kaffee an den runden Küchentisch. »Das sieht gut
aus«, sagt sie.
»Möchten Sie etwas?«
»Nein danke, ich habe schon gegessen.«
Victorias Augenbrauen sind fast auf ganzer Länge gezupft. Sie trägt Topasohrringe,
die zur Farbe ihrer Augen passen. Ihr Haar, noch feucht vom Duschen, trocknet, während
sie isst, zu weichen Wellen. Sie ist eine von der Natur gesegnete Frau: die klare
Haut, das glänzende Haar, die makellosen Zähne (man vermutet allerdings, dass da
nachgeholfen wurde), der schlanke Körper, das ungemein gewinnende Lächeln.
»Ich würde ja auf Jeff warten«, bemerkt sie entschuldigend, »aber er
ist fix und fertig. Er sagt, er hat die halbe Nacht mit Ben durchgequasselt. Ich
bin froh darüber, denn sonst sehen sie sich kaum, obwohl sie beide in Boston leben – das heißt, genau gesagt, in Cambridge und in Boston. Das hier ist einfach eine
Pracht«, fügt sie in einem Ton beinahe ehrfürchtiger Bewunderung für den Atlantik
hinzu, der sich heute von seiner besten Seite zeigt. »Ich komme seit Jahren hierher,
aber ich denke es immer wieder.«
»Sie hatten Glück mit dem Wetter dieses Wochenende«, sagt Sydney. Aber
Sydney denkt nicht an das Wetter. Sie denkt vielmehr über die erstaunliche Tatsache
nach, dass Jeff seiner Freundin nichts von der Suchaktion nach Julie erzählt hat,
nichts von der nächtlichen Wache. Sie wüsste gern, warum er es für nötig gehalten
hat, das zu verschweigen.
»Wie lange werden Sie hier sein?«, fragt Victoria. »Ich glaube, das hat
niemand gesagt.«
»Bis zum Ende
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