Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
entgegnet Sydney, als hätte sie etwas
zu verteidigen.
Was denn?, fragt sie sich. Jeff? Ihr Urteil? Sie trinkt einen Schluck
Kaffee. »Es könnte auch genau andersherum sein«, sagt sie.
»Dass Sie das sagen, heißt, dass es nicht so ist und ich mit meiner Bemerkung
recht habe. Er hat Sie nicht verdient. Hat er Ihnen eine Erklärung gegeben?«
»Er ist einfach nicht erschienen. Sein Vater und sein Bruder mussten
ihn suchen. Ich weiß nicht, was er damit eigentlich bezwecken wollte. Es machte
alles nur noch peinlicher und beschämender, jedenfalls für mich.«
Mr. Cavalli nickt nur. Natürlich empfindet eine Frau es als beschämend,
verlassen zu werden. Vielleicht denkt er, es wäre ihre Schuld gewesen. »Es scheint
reine Feigheit von ihm gewesen zu sein«, meint er.
»Er sagte mir, er hätte mich aus den falschen Gründen gebeten, seine
Frau zu werden. Er hätte es getan, um seinen Bruder zu verletzen.«
»Sein Bruder hat Sie geliebt?«
»Ich glaube, es war komplizierter. Jedenfalls hat sein Bruder nie eine
Spur von Liebe zu mir gezeigt. Ganz im Gegenteil.«
»Es tut mir leid, das ist alles sicher sehr schmerzhaft für Sie«, sagt
er.
»Ich spreche heute zum ersten Mal darüber.« Sydney legt ihre Arme im
Schoß übereinander. Sie empfindet ein tiefes und befreiendes Gefühl der Kapitulation.
»Ich möchte nicht neugierig sein.«
»Es ist auch eine Erleichterung.«
»Ja, das kann ich verstehen.«
»Es war nur – nur so…« Sie gerät ins Stocken. »Ich gehörte zu einer Familie,
und das ist jetzt vorbei. Diese Familie hat mir etwas bedeutet.«
»Hat Ihnen der Aufenthalt hier geholfen?«, fragt Mr. Cavalli, mit einer
Geste das Hotel umfassend.
»Ich glaube schon. Ja, ganz sicher. Ich weiß nicht, was ich sonst getan
hätte.«
Mr. Cavalli lehnt sich auf der Lederbank zurück, eine Hand noch an der
Kaffeetasse. Er bewegt sich in seiner Kleidung mit Gesten, die so elegant sind wie
der Schnitt des Anzugs.
Sydney ist das Ungewöhnliche des Treffens bewusst. Die junge Frau, die
die Gläser poliert, wird sie bloß für eines von vielen Paaren beim heimlichen Rendezvous
halten, obwohl nichts, was sie gesagt oder getan haben, diesen Schluss nahelegt.
Aber es schwingt da unterschwellig etwas mit, das Sydney nicht recht zu fassen bekommt.
Sie könnte jetzt aufstehen und sich zurückziehen, ohne zu wissen, worum es eigentlich
geht, es könnte Neugier sein oder auch einfach sexuelle Anziehung.
Aber dieser Mann scheint insgesamt zu welterfahren, um es auf den üblichen
Annäherungsversuch ankommen zu lassen. Er wird wissen, dass sie nach ihrer jüngsten
Erfahrung mit der Liebe unberechenbar ist, ein unsicherer Faktor. Entweder zu begierig
oder unnahbar.
»Ich hatte auch einmal eine große Liebe«, sagt Mr. Cavalli, vielleicht
um einen Ausgleich zu schaffen, nachdem Sydney sich ihm anvertraut hat. Er ist ja
ein äußerst wohlerzogener Mensch. Sydneys Frage voraussehend, fügt er hinzu: »Sie
war Engländerin. Ich habe sie während des Studiums kennengelernt. Ihre Eltern waren
gegen die Verbindung.«
»Sie muss noch sehr jung gewesen sein«, meint Sydney, »wenn sie ihren
Eltern solchen Einfluss eingeräumt hat.«
»Ich glaube, sie hatte Angst«, sagt er. »Sie hatte Angst, ich würde in
Neapel leben wollen.«
»Hätten Sie das denn getan?«, fragt sie.
»Nur wenn sie es gewollt hätte. Ich glaube, sie hat nie begriffen, welche
Macht sie über mich hatte.«
»Hat sie sie noch? Diese Macht?«
»Oh ja«, antwortet er lächelnd.
Er hat, findet Sydney, ein schönes Lächeln. Seine Augen sind groß mit
schweren Lidern, er hat eine hohe Stirn. Er könnte jedes Alter zwischen dreißig
und fünfundvierzig haben.
»Was ist aus ihr geworden?«, fragt Sydney.
»Sie sitzt in der Chefetage einer Bank.«
Sydney trinkt von ihrem Kaffee. »Vielleicht ist sie jetzt selbstsicherer
und würde sich über den Widerstand ihrer Eltern hinwegsetzen.«
»Das ist Jahre her«, sagt Mr. Cavalli. »Sie war inzwischen verheiratet
und ist wieder geschieden.«
»Ich wette, den Eltern tut es jetzt leid«, meint Sydney.
Er lächelt. »Ich bezweifle, dass sie sich auch nur einen einzigen Gedanken
darüber machen. Sie sind nicht die Art Menschen, die zurückblicken.«
Sydney seufzt. »Ich wollte, so wäre ich auch«, erklärt sie.
»Nein, das wollen Sie nicht«, widerspricht er. »Niemals über Ihr Handeln
nachdenken, über Ihre Vergangenheit, das, was vielleicht hätte sein können? Über
die ganze reiche Vielfalt Ihres bisherigen
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