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Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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sie gleich zu weinen anfangen wird. Sie muss versprechen, dass sie wiederkommt,
aber sie ahnt, dass sie das nicht tun wird, dass sie nie wieder eine Rechtfertigung
dafür finden würde, so viel Geld auch nur für eine einzige Nacht auszugeben, geschweige
denn für zweiundzwanzig Nächte.
    Als das Taxi losfährt, wirft sie den Leuten eine Kusshand zu.
    An der ersten Kreuzung schwingt der Fahrer den Arm über die Rückenlehne
des Vordersitzes. »Wohin?«

2005

 
    EINE SINTFLUT HAT EINE STADT im Süden zerstört. Die Gaspreise schnellen in die Höhe. Sydney stellt fest, dass
die Straßenmaut in Hampton jetzt elektronisch erhoben wird. In der Hochsaison musste
man manchmal eine halbe Stunde, gelegentlich sogar eine volle Stunde warten. Jetzt
gibt es keine Autoschlangen mehr, es ist, als wäre der Norden evakuiert worden.
    Alles ist so verändert. Bomben in London. Tägliche Bombardierungen im
Irak. Manchmal kostet es viel Willenskraft, abends CNN einzuschalten und sich den
Tagesnachrichten auszusetzen – wenig glaubhaft, nur allzu glaubhaft.
    Sydney fährt auf den öffentlichen Parkplatz, der Wagen rollt über den
losen Kies. Ihr Blick fällt auf eine Badehütte, einen verwitterten Zaun, einen Plankenweg.
Sie lässt das Fenster herunter und atmet die Luft ein. Sie riecht nach feuchtem
Sand und Fisch, ein Zeichen, dass Ebbe ist. Der Wind streicht warm über ihren Arm
im offenen Fenster. Wärmer noch wird das Wasser sein, wie häufig im September. Und
es werden nur wenige Menschen am Strand sein.
    Die Familie bleibt nie länger als bis zum Labor Day.
Nie.
    Sie zieht die Schuhe aus und krempelt ihre schwarze Hose hoch. Dann sperrt
sie den Wagen ab und steckt den Schlüssel ein. Auf dem Plankenweg liegen dünne Sandwehen.
Letzte Strandrosen, die Büsche teilweise schon mit Hagebutten behangen, blühen an
den Holzplanken. Sie wird den Plankenweg überqueren, sich am Strand sattsehen und
dann zum Haus gehen. Wenn sie diese kleine, aber notwendige Aufgabe erledigt hat,
wird sie zum Auto zurückkehren und weiterfahren nach Durham im Norden.
    Doch als sie den Strand erreicht, trifft sie der Anblick unerwartet mitten
ins Herz, die Abwehr, die sie aufgebaut hat, zeigt sich anfällig und untauglich.
Die Hand auf die Brust gedrückt, steht sie da, als könnte sie sich so schützen.
Nicht nur hatte sie die Erinnerung daran verloren, wie dieses besondere Stück Strand
aussieht; sie hatte auch vergessen, dass dies dieselbe Luft ist, die einst von Geräuschen,
Gerüchen und Stimmen belebt war. Sydney hat plötzlich Angst vor diesen Sinneseindrücken.
    Aber der Blick. Dieser Blick. Er ist unbestreitbar berauschend.
    Sydney setzt sich nieder, wo sie stehen geblieben ist. Sie schließt die
Augen vor der unverhüllten Sonne und lauscht den Wellen. Sie kann ihre Höhe am Klang
erkennen – kann die stürmischen Brecher von den bedächtigen Rollern unterscheiden.
War hier kürzlich ein Sturm? In der Stadt nimmt sie das Wetter manchmal überhaupt
nicht wahr oder wird nur flüchtig daran erinnert, wenn sie von der Wohnung zum Büro
und wieder zurück geht. Die meisten ihrer Tage verbringt sie im Psychologieseminar
in einem Raum ohne Fenster. Manchmal, wenn sie am frühen Abend hinausgeht, überrascht
es sie zu sehen, dass es in Strömen gießt oder, umgekehrt, das Wetter so schön ist,
dass sie kaum glauben kann, dass sie es beinahe nicht gemerkt hätte.
    Sydney war seit dem Tag, an dem sie sich von Mr. Edwards verabschiedet
hat, nicht mehr nördlich von Boston. Aber als sie und ihre Kollegen die Einladung
zu der Konferenz an der Universität von New Hampshire erhielten, war sie sofort
wie besessen von dem Gedanken, zum Haus hinauszufahren, es wiederzusehen. Sie kann
sich selbst nicht eindeutig erklären, warum dieses Vorhaben von so ungeheurer Bedeutung
war; es besetzte sie ähnlich, wie der Plan, einen früheren Liebhaber zu besuchen,
es vielleicht getan hätte. Immer wenn sie an die Fahrt nach Norden dachte, winkte
das Bild des Strands wie das Licht eines imaginären Leuchtturms.
    Die Sonne tut gut, und ihr Herzschlag beruhigt sich allmählich. Sie war
in diesem Sommer selten im Freien, höchstens wenn sie ab und zu einen kurzen Spaziergang
gemacht oder sich mittags auf eine Bank gesetzt hat, um etwas zu essen, und ihr
Gesicht hat noch die Blässe vom Februar. Sie legt sich in den Sand. Es ist wahrscheinlich
sogar im September unvorsichtig, sich ohne Sonnenschutzmittel so nah am Wasser in
die Dünen zu legen, aber sie hat vergessen, wie

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