Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Lebens?«
»Ich wünsche mir eine Amnesie«, sagt Sydney.
»Haben Sie jetzt Schmerzen?«, fragt er und berührt mit den Fingerspitzen
den Gips an ihrem Unterarm.
»Ich habe fast nie Schmerzen«, antwortet Sydney. Sie spürt seine Berührung
nicht. Wenn sie sie nicht spürt, zählt sie nicht als Berührung im üblichen Sinn.
»Manchmal tut es nachts weh.«
»Wann wird der Gips abgenommen?«, fragt er.
»In fünf Wochen.«
»Und bis dahin bleiben Sie hier?«
»Oh nein«, entgegnet Sydney. »In vier Tagen ist mein Geld alle.«
Sofort ist ihr die Bemerkung peinlich. »Ich kann nicht bleiben«, fügt
sie hinzu. »Ich habe unheimlich viel zu erledigen. Ich muss aus der Wohnung ausziehen,
in der ich mit – mit Jeff gelebt habe«, erklärt sie, dem treulosen Verlobten einen
Namen gebend. »Ich muss mir etwas Neues suchen.«
»In Boston?«
»Vielleicht.«
Ein Kellner kommt und fragt, ob er ihnen heißen Kaffee nachschenken darf.
Beide lehnen ab. Beide haben das Gebäck nicht angerührt, obwohl Sydney die Baisers
verlockend findet. »Ich habe ihn nicht sehr gut gekannt«, sagt sie unvermittelt
und ist selbst überrascht. »Jeff, meine ich. Rückblickend – ich habe darüber nachgedacht – muss ich sagen, dass es vieles gab, was ich nicht von ihm wusste. Er war mit seinen
Gedanken oft woanders. Ich habe keine Ahnung, wo.«
»Sie haben nicht gefragt?«
»Ich dachte, ich hätte noch Jahre Zeit, um zu entdecken, wohin er in
Gedanken schweifte.«
»Sie haben einiges durchgemacht, sowohl emotional als auch körperlich«,
stellt Mr. Cavalli fest.
Sydney dreht das eingegipste Handgelenk auf ihrem Schoß hin und her.
»Das Verrückte ist«, sagt sie, »dass ich über den Unfall beinahe froh war. Ich habe
das Gefühl, dass er mich aus einem tiefen Schlaf gerissen hat. Es war eine Erleichterung,
richtigen Schmerz, körperlichen Schmerz zu fühlen. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen
das begreiflich machen kann.«
»Absolut. Darf ich fragen, was Ihr Verlobter beruflich macht?«
»Er ist Professor am MIT«, antwortet sie, überlegt einen Moment und fragt:
»Sie sind doch nicht am MIT, oder?«
»Nein, nein«, sagt er. »Ich bin im Import-Export-Geschäft.«
Das kann alles heißen, denkt Sydney. »Leben Sie hier? In Boston?«, fragt
sie.
»Ich pendle zwischen London und Boston hin und her.«
Sie hat den Eindruck, dass er ausweicht. Noch mehr zu fragen wäre jedoch
unhöflich, und unhöflich zu sein besteht kein Anlass. So wichtig ist es ihr nun
auch wieder nicht, zu wissen, was er tut.
»Ich wusste, dass etwas fehlt«, sagt Sydney nach einiger Zeit. »Es hatte
alles etwas leicht Irreales.«
»Sie sprechen von Ihrem Verlobten?«
»Es ging so schnell.« Sie denkt an den Tag, an dem Jeff sich zu ihr auf
die Veranda setzte und ihr mitteilte, dass er um ihretwillen Victoria verlassen
hatte. Wie sie damals schon gedacht hatte, dass er ihr so weit voraus sei. »Es ist
so, als hätten wir mehrere Schritte ausgelassen, die jetzt, in der Rückschau, unerlässlich
scheinen.«
»Welche Schritte?« Nun schenkt er sich doch eine zweite Tasse Kaffee
ein.
»Na ja, die allmähliche Wahrnehmung beider, dass sich zwischen ihnen
etwas entwickelt. Die Beziehung war da, bevor ich es überhaupt gemerkt habe. So
kam es mir jedenfalls vor.«
»War das Ihre erste Liebe?« fragt er.
»Ich war vorher zweimal verheiratet«, antwortet sie und wartet darauf,
dass Mr. Cavalli Überraschung zeigt. Aber er ist absolut beherrscht. »Einer meiner
Ehemänner ist gestorben«, erläutert sie. »Vom anderen habe ich mich scheiden lassen.«
»Das tut mir sehr leid«, sagt Mr. Cavalli.
Sydney erzählt ihm von Andrew und Daniel. Sie erzählt ihm auch, wie sie
und ihre Mutter eines Tages ihren Vater in New York sitzen gelassen haben und nach
Westmassachusetts gezogen sind und dass sie sich nie ganz verziehen hat, das zugelassen
zu haben. Sie erzählt ihm von Mr. und Mrs. Edwards, von Ben und Julie. Er seinerseits
erzählt ihr von der Großfamilie, der er angehört, und von seinen jährlichen Besuchen
in Neapel. Einmal greift er über den Tisch und berührt ihren unverletzten Arm, und
sie zuckt unwillkürlich zurück. Es tut ihr sofort leid, aber sie weiß nicht, wie
sie ihr Bedauern mitteilen soll, ohne die Sache anzusprechen, was für beide peinlich
wäre, oder ihn ihrerseits zu berühren, was ihm möglicherweise einen völlig falschen
Eindruck vermitteln würde. Einen Moment lang leidet sie die Höllenqualen der Verlegenheit.
»Ich habe einen Termin«,
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