Die Nacht der Schakale
Angehörigen der mittlerweile über 120 diplomatischen Missionen in Ostberlin fuhren häufig auf die andere Seite, vielleicht weil sie Klosettpapier brauchten, so ihnen das östliche zu rau war, oder, weil sie Golf spielen oder sich die Haare färben lassen wollten.
Er drückte auf den Knopf.
Prompt kam der Name des Coiffeursalons New Fashion am Kudamm ins Bild. Es war pedantisch festgehalten, wann die gepflegte Diplomatin sich hier hatte verschönern lassen. Ankunftszeit, Abgangszeit. Natürlich ließ man KLABAUTERMANN nicht unbeaufsichtigt im Westen herumturnen. Das letztemal war die Legationsrätin gestern im New Fashion gesehen worden.
Gestern? Zu diesem Zeitpunkt mußte Sabotka seine Agentin wegen der Ypsilon-Affäre längst gewarnt haben, Westberlin zu betreten – aber Frauen sind nun einmal so: Wenn es um ihr Aussehen geht, werden sie unvernünftig; das ist vielleicht eine Art höherer Vernunft.
Lipsky verstand nicht viel von Frauen. Er war als Leipziger Kellerkind aufgewachsen und dabei nicht in Auerbachs Keller groß geworden; später hatte er keine Zeit mehr gefunden, das Versäumte wenigstens theoretisch nachzuholen.
Entgegen seiner Weisung wurde er in diesem Moment gestört, und das konnte nur bedeuten, daß General Lupus den intimsten Kreis zum Scherbengericht versammelte. Phimoses kam als letzter in den abgeschirmten Konferenzraum. Man hatte schon auf ihn gewartet; er stellte gleich beim Betreten fest, daß Sabotka, Gelbrich und Konopka fehlten.
Lupus nickte Lipsky zu.
Der EDV-Spezialist griff nach dem nächstbesten Stuhl, saß zwischen Laqueur, den man wieder ausgegraben hatte, und Herbert Brosam – und damit eigentlich zwischen den Stühlen.
»Was ich Ihnen zu eröffnen habe«, begann der Untergrundgeneral, »würde ich mir gerne ersparen. Sie sehen, daß drei Kollegen fehlen, die eigentlich hier sein sollten: Die Genossen Sabotka und Gelbrich sind dienstlich verhindert – sie vernehmen gerade den Mann, den ich gestern Abend verhaften lassen mußte.« Die ranghohen Stasi-Funktionäre sahen ihren Chef an und merkten, daß ihm die Nennung des Namens schwerfiel. »Es handelt sich um Max Konopka.«
Sie fuhren auseinander wie bei einem Granateinschlag. Es war offensichtlich, daß außer Lipsky keiner mit einer so ungeheuerlichen Mitteilung gerechnet hatte. »Ich war gezwungen, ihn festnehmen zu lassen, als er Vorbereitungen traf, auf die andere Seite überzulaufen«, stellte Lupus mit ausdruckslosem Gesicht, aber gepresster Stimme fest. »Ich brauchen Ihnen nicht zu sagen, Genossen, daß dieser Fall für mich auch eine schwere menschliche Enttäuschung mit sich bringt.«
Es war, als hielten die Teilnehmer der Geheimkonferenz den Atem an, während ihnen der HVA-Chef die Zusammenhänge erklärte: erster Verdacht gegen den subversiven Wirtschaftsfachmann nach den Fällen Sindelfingen und Bonn. Bewusste Irreführung Konopkas durch den Bericht des Genossen Lipsky, erstellt im Auftrag des Generals; taktisches Einschläfern seines letzten Misstrauens durch den Auftrag, die Rolle zu spielen, die er sich selbst angemaßt hatte: den Sperber.
»Es war für mich eine schlimme und gefährliche Entscheidung. Ich mußte den Verräter in Sicherheit wiegen; es blieb mir nichts anders übrig als dabei auch Sie zu täuschen, Genossen«, stellte Lupus fest. »Ich setzte auf Ihr Verständnis im Interesse der Sache. Selbstverständlich hatten wir Konopka von da an unter ständiger Kontrolle. Er ist in dieser Zeit zweimal nach Westberlin gefahren, einmal, um über die Frau eines übel beleumundeten Kopfjägers eine Tonkassette in einem Rendezvousclub weiterzureichen, und gestern, um den Mann selbst zu treffen und dabei den Absprung in New York am nächsten Freitag abzusprechen. Ich hatte den letzten Beweis und griff zu. Ich kann feststellen, daß dem Gegner das von uns zusammengestellte Material nicht in die Hände gefallen ist; ich habe die Herausgabe an Konopka verzögert. Leider aber hat er mit großer Wahrscheinlichkeit die Enttarnung eines bewährten V-Mannes in der westdeutschen Mission verschuldet.«
Er machte eine kurze Pause. »Sie müssen mich unterbrechen, wenn Sie Fragen haben, Genossen«, sagte er und fuhr gleich fort: »Bevor Konopka gestern nach Westberlin fuhr, veranlaßte er noch selbst die Verhaftung zweier Fluchthelfer am Berliner Kontrollpunkt. Er wollte uns Sand in die Augen streuen und zugleich seinen Kontaktmann zum CIA und BND unter Druck setzen.«
Allmählich begriffen die Anwesenden
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