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Die Nacht der Uebergaenge

Die Nacht der Uebergaenge

Titel: Die Nacht der Uebergaenge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: May R. Tanner
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nüchterner, kluger
Verstand den runden, kleinen Kopf, der sich für gewöhnlich nicht so einfach
einlullen ließ. Chryses und der junge Vogel hatten eine Menge gemeinsam. Leider!
    Die Devena wandte sich von der Gartenszene unter ihr ab und
griff in eine hölzerne, mit Löchern versehene Kiste, die vor ihr auf der
Fensterbank stand. In ihr raschelte es und ein leises, verängstigtes Quieken
war zu hören, als ihre Finger tastend darin suchten und schließlich mit geübtem
Griff fanden, ohne den Vogel aus den Augen zu lassen, der ganz plötzlich mit
hellwachen Sinnen in Richtung Kiste starrte und die Flügel spreizte.
    „Ja, Baby. Ich weiß, was du willst.“
Imogen lächelte wissend, fast ein wenig teuflisch. Der Vogel stieß einen hellen
Schrei aus und die Augen des Tieres wurden gierig drein blickende schmale
Schlitze, als es die dicke weiße Maus zwischen Zeigefinger und Daumen der
Devena zappeln sah. Die Devena ging langsam in die Knie, was sich in der engen,
blauen Abendrobe, die sie trug, beinahe eine Unmöglichkeit darstellte.
    Wäre es einer ihrer Söhne, hätte er sie vor dem Essen in
Dankbarkeit küssen müssen, doch sie war kein Freund von sadistischen
Quälereien. Der Vogel hatte Hunger, also gab sie die Maus frei. Ließ sie
einfach auf den kostbaren Teppich fallen und davon laufen, solange sie noch
konnte. Der Falke dagegen hatte weniger Mitleid. Er stürzte sofort im geübten
Tiefflug und ohne sich lange mit Spielereien aufzuhalten auf das kleine,
armselige Ding und zerfetzte es mit seinen starken Krallen und gesundem
Appetit, bevor es den sicheren Bettkasten des riesigen Schlaf- und
Ankleidezimmers erreichte, unter dem es sich hätte verstecken können.
    Die Tür ging auf. Thersites kam herein und rümpfte
augenblicklich die Nase, als sie den Vogel in der Mitte des Raumes sah, der
soeben die Innereien der Maus heraus rupfte.
„Imogen, das ist widerlich! Lass deinen Vogel beim nächsten Mal draußen
fressen. Auf dem Gelände ist Platz genug und wenn er nur halb so gut dressiert
ist wie Blake, dann musst du auch keine Angst haben, dass er nicht zurück kommt.“,
sagte sie kühl und zog Wendy, die zögernd vor der Tür stehen geblieben war, ins
Zimmer.
    Sie verfiel sofort in einen demütigen Knicks vor der anderen
Patrona, die leicht angesäuert mit der Zunge schnalzte, was zur Folge hatte,
dass der Falke die halb gefressene Maus mit einem empörten Aufschrei liegen
ließ und augenblicklich auf eine goldene Vogelstange flog, die man in einer
Zimmerecke platziert hatte.
Imogen trat auf den Vogel zu und streifte ihm ein Käppchen aus dunklem Leder
über, bevor sie noch einmal zärtlich das Gefieder streichelte und ihm
zuflüsterte: „Ja, ich weiß. Sie hat keine Ahnung davon, dass dein Blut besser
ist als ihres. Vergib ihr die Unwissenheit, die trotz ihrer Unsterblichkeit
immer noch in ihr wohnt. Du bekommst später noch etwas, Mordred.“
    „Meine Intelligenz anzuzweifeln, ist noch niemandem gut
bekommen, Imogen. Ich verstehe, wenn der Vogel Hunger hat und fressen muss,
aber ich kann nicht akzeptieren, dass er dazu einen kostbaren Bodenbelag aus
dem 12. Jahrhundert als Teller benutzt.“
Thersites war, wie jedes Mal, verärgert über die Ignoranz, die ihr
entgegenschlug. Lediglich Flavia konnte Imogen in ihrer rebellischen Seite
toppen.
    "Bla bla bla! Halt den Mund, Thersites. Das hier ist
mein persönliches Zimmer. Ich darf hier tun und lassen, was ich möchte. Blake
hortet so viele Teppiche, dass Salama ihr ganzes Schloss damit neu auslegen
könnte, wenn sie ein Fleck auf dem Boden stört. Lass mich Wendy begrüßen und
dann schreiten wir zur Tat. Ich habe nicht vor, den Abend streitend mit dir zu
verbringen, Liebes. Die neue Sophora ist dabei, den größten Fehler ihres Lebens
zu begehen und Chryses hadert mit seinem Schicksal. Ist das nicht ärgerlich
genug? Wenn ich gewusst hätte, was für Spannungen auf diesem Fest herrschen,
wäre ich gar nicht erst gekommen. Unwissenheit hat eigentlich noch nie jemandem
geschadet. Wissen dagegen bringt nur übermäßige Nachdenklichkeit und nährt den
Zweifel in der Seele eines menschlichen Wesens.“
Nathans Mutter pflichtete ihr mit einem nachsichtigen, zustimmenden Nicken bei.
    Imogen trat auf Wendy zu, hob ihr immer noch gesenktes
Gesicht am Kinn empor und küsste sie so zärtlich, wie sie den Vogel berührt
hatte, auf beide Wangen. Der Schmerz, den sie bei Wendys Anblick empfand, war
groß. Sie hatte nicht verhindern können, dass Narben zurückblieben.

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