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Die Nacht der Uebergaenge

Die Nacht der Uebergaenge

Titel: Die Nacht der Uebergaenge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: May R. Tanner
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auf der Palette zu seiner Rechten in einer wohldurchdachten Anordnung. Dann
nahm er einen feinen Pinsel auf und begann mit ruhiger Hand die ersten Muster
zu zeichnen, die so fein und kompliziert waren, dass jeder andere dabei die
Augen zugekniffen hätte, doch seine Augen blieben entspannt und dennoch auf
seine Arbeit fokussiert. In seinem Gesicht mit der olivfarbenen Haut stachen
sie besonders hervor, weil sie milchig weiß und kaum vom dem Weiß des Augapfels
zu unterscheiden waren, wenn die Iris nicht mit einem silbernen Rand davon
abgegrenzt wäre.
    Die Augen eines Blinden , dachten die meisten, doch in
Wahrheit waren es die Augen eines Sehenden …
    Es dauerte über eine Stunde, bis er mit dem Ergebnis seiner
Arbeit zufrieden war und die Urne zur Seite stellte, damit die Farben in Ruhe
trocknen konnten, die durchsichtige Glasur würde er erst in ein paar Tagen
auftragen, damit die Zeichnungen auf dem Porzellan nicht irgendwann
verblassten. Die Asche eines Verstorbenen würde darin eine ehrenvolle letzte
Ruhestätte finden, es sei denn, ein Sammler kaufte das Kunststück und bewahrte
es zu seiner persönlichen Erbauung in einem Glaskasten auf.
    Leise summend räumte der Künstler seine Gerätschaften
zusammen, die Palette und die Pinsel trug er rüber zur Spüle in die Küche, wo
er zwei Waschbecken einbauen hatte lassen. Er spülte die Farbreste von der
Palette und legte sie zum Trocknen auf die Ablagefläche, dann füllte er eine
Porzellanschale mit Wasser, weil er darin die empfindlichen Pinsel einweichen
wollte, doch bevor er nach ihnen greifen konnte, bemerkte er auf der Oberfläche
ein Leuchten, das ihn innehalten ließ.
    Das kam nicht vom Mond, der bald untergehen würde, da er mit
dem Rücken zum Fenster stand.
Mit geneigtem Kopf verharrte er in absoluter Stille und umschloss das Gefäß mit
beiden Händen, wo er Dinge auf der Oberfläche sah, die ihm merkwürdig vorkamen,
da er sonst ziemlich genaue Abbilder der Wirklichkeit sah.
    Aber diese Bilder waren anders … Merkwürdig surreal wie
ein Bild von Salvador Dalí... Eine brennende Wüste, blutiger Regen und dann sah
er die drei Frauen, die ihm in dieser Szenerie völlig deplatziert vorkamen.
Sie trugen alle Monturen, die ihn an seine eigene erinnerten, wenn er einen
seiner speziellen Aufträge durchführte. Ihre langen Haare flatterten im Wind.
Blond und Rotblond waren am auffälligsten, doch sein Blick wurde magisch von
der Frau mit den goldbraunen Wellen angezogen. Sie hielt ein Schwert in ihrer
Hand, das aussah, als wäre es zu schwer für ihre zierliche Statur.
    Noch merkwürdiger war, dass er die Bilder heran zoomen
konnte, wenigstens kam es ihm so vor, weil er daran gedacht hatte, dass er sich
diese Waffe gerne genauer ansehen würde. Wie bei einer rasend schnellen
Kamerafahrt in einem Film flogen die Griffe der Schwerter näher, die die Frauen
überkreuzt vor sich hielten, als schwören sie einander ewige Ergebenheit und
Treue.
    Der Seher hatte beinahe das Gefühl, durch die
Wasseroberfläche in diese andere Welt gezogen zu werden. Zum ersten Mal
blinzelte er etwas hektischer, als ihm die Details des Schwertgriffes ins Auge
fielen.
Seine linke Hand löste sich von der Schale und legte sich auf seine Brust, wo
er gedankenverloren über die Zeichnungen strich, die man in seine sonst
makellos glatte Haut gestochen hatte. Das Bild auf der Wasseroberfläche veränderte
sich wieder und er erblickte eine kleine Gestalt, die ebenfalls die viel zu
schwere Waffe am ausgestreckten Arm gen Himmel reckte. Sie hob den Blick zu ihm
an und er meinte, erstauntes Erkennen darin zu entdecken.
    - …Ich kann dich sehen… Wer bist Du?... -, wehte ein
Flüstern zu ihm herüber, das wie die Stimme eines kleinen Mädchens klang.
Irgendwie passte der Vergleich, weil sie so aussah wie eine fragile
Keramikpuppe mit ihrer hellen Haut, die von innen heraus zu leuchten schien.
    - Warte… geh nicht! -
    Doch seine Bitte blieb ungehört, die junge Frau mit den
riesigen dunklen Augen, die gerade noch fragend zu ihm aufgesehen hatten, löste
sich in Luft auf, es blieb nur die zitternde Wasserfläche übrig, auf der die
Strahlen des Mondes tanzten, weil seine Hand doch noch unsicher geworden war.
    Vorsichtig stellte er die Schale auf der Ablagefläche ab und
gab die Pinsel hinein, damit deren empfindliche Borsten nicht eintrockneten,
wobei seine Gedanken noch in der anderen Welt weilten. So langsam wurde ihm
klar, dass er etwas gesehen hatte, was er eigentlich nicht hätte

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