Die Nacht der Wölfin
wusste; er war in einer Welt aufgewachsen, in der Mütter, Schwestern und Tanten nur Begriffe aus dem Wörterbuch waren. Und es gab keine weiblichen Werwölfe. Außer mir, natürlich. Als ich gebissen worden war, hatte Jeremy mit einem fügsamen, kindlichen Wesen gerechnet, das sein Schicksal annehmen und sich mit einem schönen Zimmer und hübschen Kleidern zufrieden geben würde. Wenn er die Zukunft hätte vorhersehen können, hätte er mich vielleicht vor die Tür gesetzt. Oder Schlimmeres.
Die Person, die mich biss, hatte mich auf die schlimmste denkbare Art verraten. Ich hatte ihn geliebt und ihm vertraut, und er hatte mich zu einem Ungeheuer gemacht und mich dann Jeremy überlassen. Zu sagen, dass ich schlecht damit zurechtkam, wäre untertrieben. Das Arrangement mit dem Zimmer hielt nicht lange vor. Innerhalb einer Woche musste Jeremy mich in einen Käfig sperren. Meine Wandlungen wurden so unkontrollierbar wie meine Wutanfälle, und alles, was Jeremy hätte sagen können, war falsch. Ich verachtete ihn. Er war mein Gefängniswärter und die einzige Person, der ich die Schuld für die körperliche und emotionale Folter zuschieben konnte, die ich durchmachte. Wenn der Käfig meine Hölle war, war Jeremy mein Satan.
Irgendwann war ich dann entkommen. Ich hatte mich per Anhalter nach Toronto zurückfahren lassen, wobei ich mich auf die einzige Art erkenntlich erwies, die mir zur Verfügung stand – mit meinem Körper. Aber wenige Tage nach meiner Ankunft wurde mir klar, dass meine Einschätzung des Käfigs fürchterlich falsch gewesen war. Er war keine Hölle. Er war lediglich eine Station auf der Reise dorthin. In Freiheit zu leben und meine Wandlungen nicht kontrollieren zu können – das war der neunte Kreis der Hölle.
Ich begann Tiere zu töten, um zu überleben, Kaninchen, Waschbären, Hunde und sogar Ratten. Nach kurzer Zeit hatte ich alle Illusionen bezüglich meiner Kontrolle und Selbstbeherrschung verloren und versank im Wahnsinn. Ich konnte nicht logisch denken, ich konnte überhaupt kaum denken, mich trieben einzig und allein die Bedürfnisse meines Magens. Die Kaninchen und Waschbären reichten nicht aus. Ich tötete Menschen. Nach dem zweiten Mal spürte Jeremy mich auf, nahm mich mit nach Hause und bildete mich aus. Ich versuchte nie wieder zu fliehen. Ich hatte meine Lektion gelernt. Es gab Schlimmeres als Stonehaven.
Nachdem ich mich aus dem Bett gekämpft hatte, schlurfte ich über den kalten Holzboden zum Teppich hinüber. Der Schrank und die Kommode waren voller Kleider, die sich im Lauf der Zeit angesammelt hatten. Ich fand Jeans und eine Bluse und zog sie über. Zum Kämmen war ich zu faul; ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar und band es zu einem lockeren Zopf zusammen.
Halbwegs präsentabel öffnete ich die Tür und sah hinaus in den Gang. Als ich Clays tiefes Schnarchen aus seinem Schlafzimmer kommen hörte, spürte ich einen Teil der Anspannung in meinen Schultern abebben. Immerhin ein Problem, dem ich an diesem Morgen aus dem Weg gehen konnte.
Ich schlüpfte hinaus in den Gang und an seiner geschlossenen Tür vorbei. Mit einer Plötzlichkeit, die mir nicht ganz geheuer war, brach das Schnarchen ab. Ich fluchte leise und rannte die ersten paar Stufen hinunter. Clays Tür öffnete sich knarrend; dann hörte ich seine nackten Füße über den Dielenboden tappen. Bleib nicht stehen, ermahnte ich mich selbst, und dreh dich nicht um. Dann blieb ich stehen und drehte mich – natürlich – um.
Er stand oben an der Treppe und wirkte erschöpft genug, um bei der geringsten Berührung die Stufen hinunterzurollen. Seine kurz geschnittenen goldenen Locken waren wild zerzaust und verklebt, als hätte er im Schlaf geschwitzt. Die Wangen und das kantige Kinn waren bedeckt mit rötlich blondem Bartschatten. Seine Augen waren halb geschlossen, und er versuchte immer noch, mich ins Auge zu fassen. Er trug nur die weißen Boxershorts mit dem schwarzen Pfotenmuster, die ich ihm in einer unserer besseren Phasen zum Spaß geschenkt hatte. Er gähnte, streckte sich und ließ die Schultern rollen. Muskeln spielten in seiner Brust.
»Du musstest wohl die ganze Nacht meine Fluchtwege beobachten?«, fragte ich.
Er zuckte die Achseln. Wann immer ich in Stonehaven einen üblen Tag gehabt hatte, hatte Clay die Nacht damit verbracht, die möglichen Fluchtwege zu überwachen. Als wäre ich ein solcher Feigling gewesen, mich nachts davonzuschleichen. Gut, okay, ich hatte bei Gelegenheit genau das getan,
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