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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Grenough, Chymist in London, seine tablettes pectorales von Tolubalsam gegen Blutspeien, Husten, Schnupfen, Keuchhusten und allgemeine Verstopfung der Lunge, zu kaufen in Heinsens Hof bei St. Katharinen für eine Mark, acht Schilling, dazu allerhand Riechwässer, eine Mark das Glas – wollte der arme Drifting seiner zukünftigen Braut so ein edles Riechwasser schenken? Das dürfte zu teuer gewesen sein, es sei denn, er hatte über seinen Apothekergesellenlohn hinaus Einkünfte. Wagner überflog den letzten Absatz und begriff: Grenough hatte unter Fälschungen zu leiden. Offenbar benutzte jemand «seinen für Güte stehenden Namen» und den seiner Produkte, um mit unwirksamen Nachahmungen zu verdienen. Er bot jedem, der beweisen konnte, dass «in oben genanntem Comptoir nicht die wahre Arznei verkauft wurde» eine Belohnung von 2000 Dukaten – ein Vermögen!
    Dann wurde noch angezeigt, der bekannte Schweizer-Kräuter-Tee des Herrn Mummenthaler sei wieder eingetroffen und ebenfalls in Heinsens Hof zu haben. Wagner legte den Fetzen auf den kalten Ofen, ließ seinen Blick noch einen Moment sinnend darauf verweilen. Ob Drifting etwas mit diesen Fälschungen zu tun gehabt hatte? Oder hatte ihn die Anzeige auf eine womöglich lukrative Idee gebracht?
    Die Sonne kämpfte sich durch die Wolken, nur schüchtern, doch genug, die Schummerigkeit der Kammer aufzuhellen. So entdeckte Wagner endlich auch die Münzen auf dem Boden hinter dem Ofenbein und hob sie auf.
    In der großen Hafen- und Handelsstadt Hamburg kursierten alle möglichen Münzen. Da waren die eigenen, in der Münze hinter dem Eimbeck’schen Haus geprägten hamburgischen wie Dreiling oder Schilling, die kleinen, somit alltäglichen Geldstücke, dazu wertvollere Mark- und Dukatenstücke. Aber auch lübische, braunschweigische, dänische, preußische oder hannöversche Münzen waren häufig. Wagner kannte sie alle gut, so spürten seine Finger gleich, dass eine der drei Münzen anders war, auch größer und schwerer als die beiden anderen. Im helleren Licht des Fensters erkannte er am Schriftzug, dass bei Momme Driftings Ofen neben zwei bescheidenen hamburgischen eine Münze, eher schon eine kleine Medaille aus dem Herzogtum Sachsen-Gotha lag. Gotha. Nie zuvor hatte er eine Münze aus Gotha in den Fingern gehabt, schon gar nicht eine mit dem Porträt eines Fürsten mit einer sehr altmodischen Perücke, FRIEDERICVS II entzifferte er, SAXOGOTHANVS. Und auf der Rückseite die Jahreszahl 1723.
    Wagner erschrak. Die Versuchung, diesen Fund einfach einzustecken und zu vergessen, die gothaische Münze später in das nächste Fleet zu werfen und noch gründlicher, nämlich endgültig zu vergessen, war groß. Sächsische Münzen kursierten immer wieder, schon wegen der Leipziger Messe und der Verbindung mit Dresden über die Elbe. Aber aus Sachsen-Gotha? In Gotha gab es ein immens großes Schloss, so wusste er, und kunstsinnige Fürsten hatten darin ein besonders gut ausgestattetes Theater bauen lassen. Und dort, das wusste Wagner leider auch, hatte die Becker’sche Komödiantengesellschaft während des vergangenen Karnevals auftreten dürfen. Ihre Hoffnung, als Hofkomödianten in Gotha bleiben zu können, wurde enttäuscht, immerhin hatte man sie großzügig entlohnt. Und die junge Herzogin Charlotte Amalie selbst, so hatte Helena stolz erzählt – oder war es Titus gewesen? –, egal, die junge Herzogin hatte dem nur ein oder zwei Jahre jüngeren Akrobaten eine besondere, der herzoglichen Familie gewidmete Münze verehrt. Muto war sehr stolz gewesen und wollte sie in Ehren halten. Womöglich hatte er sie nun anderweitig gebraucht.

KAPITEL 11
    «N ein, Weddemeister, ich habe gar nichts gehört, weder am Abend noch in der Nacht.» Gerrit Leubold saß am Tisch in seiner Wohnstube, ihm gegenüber der Weddemeister, neben ihm Friedrich Reuther. So grau und erschreckt der Apotheker aussah, so angeregt und aufmerksam zeigte sich sein Oheim. Es wäre falsch zu behaupten, der alte Friedrich sei gefühllos gewesen, er war nur stets mit seinem Laboratorium und den Vorgängen in seinen Destilliergefäßen, Töpfen, Mörsern und Tiegeln beschäftigt, dass ihm darüber Beziehungen zu realen Personen nahezu abhandengekommen waren. Seinen Neffen ausgenommen, denn dessen Mutter, seine Schwester, hatte er sehr geliebt. Er hatte Momme nicht so lange gekannt und auch weniger mit ihm zu tun gehabt. Außerdem hatte er ihn für dumm gehalten, eine überaus menschliche Schwäche, die er

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