Die Nacht des Ta-Urt (German Edition)
sie sich, hatte sie zum ersten Mal das Gefühl gehabt, dass sie jemand vom Grund ihrer Träume her riefe. Diese Rufe hatten noch nicht die Harmonie ihrer Illusionswelt zu zerstören vermocht, vielmehr waren sie ihr wie ein zusätzlicher Anreiz erschienen, abzutauchen, denn das schönste Paradies wird auf die Dauer langweilig ohne Geheimnis. Mit der Zeit aber, oder mit ihrer wachsenden Anstrengung, diese Stimme zu hören, war ihre ursprüngliche Traumwelt zurückgewichen und hatte der düsteren Welt Platz gemacht, die sie jetzt erleben musste.
Das Wesentliche war aber, dass sie sich bewußt wurde, dass nur die Aufklärung des Geheimnisses um die Rufe der Frau das Gleichgewicht ihrer Traumwelt würde wieder herstellen können.
Also würde sie noch härter arbeiten müssen, um herauszubekommen, was damals in ihrer Stadt geschehen war.
Es war endlich Zeit, ihr Loch wieder zu verlassen.
***
Seit ihrer unfreiwilligen Kartenlegestunde mit Marion war sie ihrer Nachbarin aus dem Wege gegangen, sie hatte wenig Lust verspürt, sich auf weitere Sessions mit ihr einzulassen. Ihr negativer Eindruck hatte sich noch verstärkt als sie feststellte, dass ihre Nachbarin ihr nachzuspionieren schien. Auf jeden Fall hatte sie sie einmal dabei ertappt, wie sie an ihrer Wohnungstüre lauschte. Sie hatte es an diesem Tage besonders eilig gehabt und war aus der Tür hinausgestürzt und dabei fast in Marion hineingerannt als diese sich zweifellos gerade von ihrem Schlüsselloch erhob. Natürlich hatte sie etwas gestammelt von "gerade klingeln wollen", aber das schlechte Gewissen stand ihr doch ins Gesicht geschrieben. Elaine hatte es wirklich eilig gehabt an diesem Tag, sonst hätte sie sich ihre Nachbarin sicher einmal vorgenommen, aber so hatte sie sich mit einem "ist schon o.k." die Treppe hinunter aus dem Haus gemacht und später die Sache auf sich beruhen lassen.
So hatte sie wenigstens einen Grund, ihre Nachbarin zu meiden.
Und als sie jetzt diesen Geruch wahrnahm, musste sie sich eingestehen, dass sie schon seit einigen Wochen nichts mehr von Marion gesehen hatte. Den süßlich-stechenden Geruch, den sie unterschwellig schon seit einigen Tagen bemerkt hatte, hatte sie bisher auf die unzureichenden hygienischen Bedingungen im Haus selbst und insbesondere Marions offensichtlich neurotische Haushaltung geschoben. Aber als sie jetzt ihre Wohnung verließ, konnte sie nicht mehr ignorieren, dass es begonnen hatte, entsetzlich zu stinken.
Sie näherte sich der Tür zur Wohnung ihrer Nachbarin und bemerkte, dass diese nur angelehnt war. Durch einen Spalt konnte sie sehen, dass trotz des Tageslichtes drinnen Licht brannte. Sicher war es nur der Geruch von ungewaschener Wäsche und verdrecktem Geschirr, der in den Flur drang.
Eine Fliege surrte durch den Spalt und verflog sich im Flur. Elaine sah etwas genauer hin und stellte erschreckt fest, dass das Türschloß aufgebrochen war. Ein großer Splitter war direkt über dem Schloss herausgebrochen. Sie berührte leicht mit den Fingern die Stelle, an der das Holz aus der Tür gebrochen war, als die Tür aufschwang und einen Schwall des Gestankes in den Flur entließ.
Elaine wäre fast gestolpert.
Ihr Herz fing an, heftig zu schlagen und sie musste würgen. Jetzt war klar, dass irgend etwas gewaltig nicht stimmte. Das war auf keinen Fall der Geruch von dreckigem Geschirr oder schmutziger Wäsche, obwohl sie es nie so stark gerochen hatte, wusste sie sofort, dass das der Geruch von Blut sein musste.
Es kostete sie einige Überwindung, sich dazu zu entschließen, die Wohnung zu betreten. Schützend hielt sie sich eine Hand vor Mund und Nase, aber trotzdem nahm der Gestank noch an Intensität zu.
Sie betrat die Wohnung.
Die Wäscheberge, die sich im Flur bei ihrem ersten Besuch getürmt hatten, waren ungleichmäßig auf dem Teppich verstreut, als hätte irgend etwas Schweres die Haufen durchpflügt.
Ein Blick rechts in die Küche offenbarte dasselbe Chaos wie damals, Geschirr türmte sich im Spülbecken, Abfall quoll aus Eimern unter dem mit weiterem Geschirr und leeren Flaschen beladenen Tisch. Anders als damals war nur, dass auffällig viele Fliegen ihre hektischen, unregelmäßigen Kreise zogen. Weiter war hier aber nichts Ungewöhnliches zu finden. Auch der Blick ins unaufgeräumte Wohnzimmer zeigte bis auf ungewöhnlich viele Fliegen nichts, was sie nicht in Marions Wohnung erwartet hätte.
Gegenüber dem Wohnzimmer befand sich das Schlafzimmer. Elaine öffnete die Tür
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