Die Nacht des Zorns - Roman
»hat er dem Druck des Valleray-Clans nachgegeben und sich von ihr scheiden lassen, um eine Frau aus vornehmer Familie zu heiraten, eine Witwe mit Sohn.«
»Denis de Valleray ist nicht sein Sohn?«
»Das, Louis, weiß jeder. Es ist der Sohn der Mutter, er hat ihn im Alter von drei Jahren adoptiert.«
»Keine weiteren Kinder?«
»Nicht offiziell. Man munkelt, dass der Graf steril sei, was sich ja nun hiermit als falsch erweist. Stell dir vor, Ordebec erfährt, dass er zwei Kinder von einer Putzfrau hat.«
»Die Mutter Vendermot war im Schloss beschäftigt?«
»Nein. Aber sie hat etwa fünfzehn Jahre lang in einer Art Schlosshotel in der Umgebung von Ordebec gearbeitet. Sie muss unwiderstehlich gewesen sein, falls sie Linas Busen hatte. Habe ich dir schon von Linas Busen erzählt?«
»Ja. Und ich habe ihn sogar gesehen. Ich bin ihr begegnet, als sie aus ihrem Büro kam.«
»Und was hast du gemacht?«, fragte Adamsberg mit einem raschen Blick zum Lieutenant hin.
»Dasselbe wie du. Ich habe sie betrachtet.«
»Und?«
»Du hast recht. Man kriegt so was wie Heißhunger.«
»In diesem Schlosshotel also suchte der Graf vermutlich die junge Frau Vendermot auf. Ergebnis: zwei Kinder. Von Seiten der Mutter hatte der Graf nichts zu befürchten. Sie würde es nicht über die Dächer schreien, dass Hippo und Lina die Kinder des Grafen sind. Denn so, wie man uns den alten Vendermot beschreibt, hätte er sie dafür umbringen können, und warum nicht gleich die Kleinen mit.«
»Sie hätte nach seinem Tod darüber reden können.«
»Auch dann war es noch eine Frage der Ehre«, sagte Adamsberg und schüttelte den Kopf. »Sie hat auf ihren Ruf zu achten.«
»Folglich machte sich der Graf keine Gedanken. Außer wegen dieses Feuermals, das ihn verraten konnte. Ergibt das eine Verbindung zum Seigneur Hellequin?«
»Letztendlich keine. Der Graf hat zwei uneheliche Kinder, so weit, so gut. Nichts, was auch nur in irgendeiner Weise mit den drei Morden zu tun haben könnte. Aber ich bin des Nachdenkens müde, Louis. Ich werde mich dort unter den Apfelbaum setzen.«
»Pass auf, dass du nicht nass wirst.«
»Ja, ich habe schon gesehen, es kommt was hoch von Westen.«
Ohne zu wissen, warum, beschloss Adamsberg, einen Teil der Nacht auf dem Weg von Bonneval zu verbringen. Er lief ihn in seiner ganzen Länge ab, ohne in der Dunkelheit eine einzige Brombeere erkennen zu können, dann kam er zurück und setzte sich auf den Baumstamm, an dem Flem seinen Zucker eingefordert hatte. Er blieb dort über eine Stunde sitzen, leidenschaftslos und empfänglich für jeden überraschenden Besuch des Seigneurs, der sich ihm aber nicht zu zeigen geruhte. Vielleicht, weil Adamsberg überhaupt nichts empfand in dieser Waldeinsamkeit, weder Unbehagennoch Furcht, nicht einmal, als der geräuschvolle Durchzug eines Hirschs ihn den Kopf wenden ließ. Ebenso wenig, als eine Schleiereule nicht weit von ihm ihren charakteristischen Ruf ertönen ließ, der wie menschliches Atmen klingt. Wobei er hoffte, dass die Schleiereule auch tatsächlich ein Vogel war. Sicher hingegen war er inzwischen, dass sich hinter Valleray ein mieser Kerl verbarg, und dieser Gedanke verdross Adamsberg. Autokrat, Egoist, ohne Liebe zu seinem Adoptivsohn. Der sich dem Ehrenkodex der Familie gebeugt hatte. Aber warum sich dann mit achtundachtzig Jahren entschließen, Léo noch einmal zu heiraten? Warum diese Provokation? Warum nach einem ganzen Leben der Unterwerfung auf dem letzten Stückchen Weg den Skandal erneut heraufbeschwören? Vielleicht, um genau diese allzu lange Knechtschaft abzuschütteln. Manch einer erhebt den Kopf erst im allerletzten Augenblick. In dem Fall änderte das natürlich alles.
Ein sehr viel lauteres Getöse plötzlich, ein schweres Getrappel, ein Schnauben, das ihn kurz hoffen ließ. Er stand auf, hellwach, bereit, sich beim Erscheinen des Seigneurs mit der langen Mähne zu verdrücken. Aber es war nur eine Horde Wildschweine, die zu ihrer Suhle jagte. Nein, dachte Adamsberg, indem er sich wieder auf den Weg machte, für ihn interessierte sich Hellequin nicht. Der Alte zog Frauen wie Lina vor, und darin gab er ihm recht.
44
»In dem Fall würde das alles ändern«, verkündete Adamsberg Veyrenc beim Frühstück.
Der Kommissar hatte Kaffee und Brot unter einen der Apfelbäume in den Hof hinausgetragen. Während er die Schalen füllte, warf Veyrenc kleine Cidre-Äpfel in eine Entfernung von etwa vier Metern.
Ȇberleg mal, Louis. Mein Foto ist
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