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Die Nacht des Zorns - Roman

Die Nacht des Zorns - Roman

Titel: Die Nacht des Zorns - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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über diesen Weg gegangen. Selbst wer nicht daran glaubt, meidet ihn.«
    »Wann war das, dieses erste Mal?«
    »Als ich elf Jahre alt war. Es war genau zwei Tage, nachdem eine Axt den Schädel meines Vaters in zwei Teile gespalten hatte. Ich nehme einen Vanillepudding mit Eischnee«, sagte sie zu der Kellnerin, »und mit sehr viel gehobelten Mandeln.«
    »Eine Axt?«, sagte Adamsberg entsetzt. »So ist ihr Vater ums Leben gekommen?«
    »In zwei Hälften gespalten wie ein Schwein, genau«, sagte Lina und ahmte den Vorgang seelenruhig nach, indem sie mit der Handkante hart auf den Tisch schlug. »Ein Hieb in den Schädel und einer ins Brustbein.«
    Adamsberg verzeichnete dieses vollkommene Ungerührtsein und zog in Erwägung, dass sein Gugelhupf mit Honig am Ende doch nicht so butterweich sein könnte.
    »Danach hatte ich lange Zeit Alpträume, nicht wegen meines in zwei Teile gespaltenen Vaters, sondern weil die Vorstellung mich entsetzte, ich könnte die Reiter wieder einmal sehen. Sie sind schon halb verwest, verstehen Sie, wie das Gesicht des Seigneur Hellequin. Vermodert«, fügte sie mit leichten Schauder hinzu. »Menschen wie Tiere haben nicht mehr alle ihre Gliedmaßen, sie machen einen grauenvollen Lärm, aber die Schreie der Lebenden, die sie mit sich schleppen, sind noch viel schlimmer. Zum Glück ist aber acht Jahre lang nichts passiert, und ich glaubte mich befreit von diesem ›Nervenleiden‹, das ich nur in meiner Kindheit ein Mal gehabt hätte. Doch mit neunzehn sah ich sie wieder. Sie sehen, Kommissar, das ist keine amüsante Geschichte, das ist keine Geschichte, die ich erfinden würde, um damit zu prahlen. Es ist ein entsetzliches Schicksal, ich habe mich zwei Mal deswegen umbringen wollen. Dann hat ein Psychiater in Caen es geschafft, dass ich trotz allem damit leben konnte, mit dieser Armee. Sie stört mich, sie belastet mich, aber sie hindert mich nicht mehr, zu kommen und zu gehen, wie ich will. Was meinen Sie, ob ich wohl noch ein paar Mandeln mehr bestellen kann?«
    »Aber sicher«, sagte Adamsberg und winkte der Kellnerin.
    »Wird es auch nicht zu teuer?«
    »Die Polizei bezahlt.«
    Lina lachte und spielte mit ihrem Löffel.
    »Wenn die Polizei schon mal fürs Bußgeld aufkommt«, sagte sie.
    Adamsberg sah sie an, ohne zu begreifen.
    »
Les amandes
und
les amendes
«, erklärte Lina. »Die Mandeln, die man isst, das Bußgeld, das man zahlt. War ein Wortspiel. Ein Scherz.«
    »Ach so, natürlich«, Adamsberg musste lächeln. »Entschuldigen Sie, ich bin etwas schwer von Begriff. Macht es Ihnen was aus, mir noch mehr von Ihrem Vater zu erzählen? Hat man herausgefunden, wer ihn getötet hat?«
    »Nie.«
    »Hat man jemanden verdächtigt?«
    »Ja, sicher.«
    »Wen?«
    »Mich«, sagte Lina und lächelte schon wieder. »Als ich die Schreie hörte, bin ich nach oben gerannt, da lag er im Schlafzimmer in seinem Blut. Mein Bruder Hippo, der damals erst acht Jahre alt war, hat mich mit der Axt gesehen und hat’s den Gendarmen erzählt. Er meinte nichts Böses zu tun, er hat eben auf ihre Fragen geantwortet.«
    »Was heißt, Sie mit der Axt?«
    »Ich hatte sie aufgehoben. Und die Gendarmen haben gedacht, ich hätte den Stiel abgewischt, weil sie keine Fingerabdrücke außer meinen darauf fanden. Am Ende, nachdem Léo und der Graf sich eingeschaltet hatten, haben sie mich in Ruhe gelassen. Das Fenster in dem Zimmer stand offen, es war ein Leichtes für den Mörder, da hindurch zu entkommen. Niemand mochte meinen Vater, ebenso wenig wie Herbier. Jedes Mal, wenn er einen seiner Tobsuchtsanfälle bekam, sagten die Leute, das sei die Kugel, die sich in seinemKopf mal wieder bewege. Als ich klein war, verstand ich das nicht.«
    »Ich auch nicht. Was bewegte sich?«
    »Die Kugel. Meine Mutter versichert, vor dem Algerienkrieg, als sie ihn geheiratet hat, sei er ein anständiger Kerl gewesen. Dann aber hat er diese Kugel in den Kopf bekommen, die man nicht hat rausholen können. Er wurde für den Außendienst für untauglich befunden und zu einem Kommando des Nachrichtendienstes versetzt. Kurz gesagt, zu den Folterern. Ich lasse Sie einen Moment allein, ich geh mal nach draußen, eine rauchen.«
    Adamsberg gesellte sich wenig später zu ihr und zog eine halbzerdrückte Zigarette aus seiner Tasche. Er sah ihr Haar mit dem Gugelhupfhonigton nun ganz aus der Nähe, es war sehr voll für eine Frau aus der Normandie. Und auch die Sommersprossen auf ihren Schultern sah er, wenn ihr Schal verrutschte, den sie aber

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