Die Nacht Hat Viele Augen -1-
keine Angst verspürte oder Trauer aus irgendeinem Albtraum, der sie in der Nacht verfolgt hatte. Sie war ausgeruht und entspannt, ihre Muskeln waren locker und voller Energie. Sie fühlte sich wohl.
Und sie hatte tatsächlich Hunger. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie morgens Hunger hatte. Mit der Zeit hatte sie völlig vergessen, wie sich Hunger überhaupt anfühlte. Aber jetzt klangen Schinken, Eier, Toast und Orangensaft wie der Himmel auf Erden. Sie tanzte unter dem Wasserstrahl und summte, während sie sich Shampoo ins Haar massierte. Plötzlich erschien ein dunkler Schatten auf der anderen Seite der Glastür. Seth schob sie auf, und seine Augen glitten über ihren eingeseiften Körper.
»Ich habe wirklich versucht, brav zu sein«, sagte er. »Ich habe versucht, mich zu beherrschen. Ich habe versucht, zivilisiert zu sein und mich zu zügeln. Ich habe versucht, der Versuchung zu widerstehen.«
Raine spülte sich den Schaum aus den Augen und blinzelte ihn an. »Ach? Und?«
Er trat in die Dusche und griff nach ihr. »Ich bin gescheitert.«
14
»Du erinnerst dich an unsere Vereinbarung?«
Raine beugte sich im Sitz zu ihm hinüber und küsste ihn. »Mach dir keine Sorgen, Seth.«
Ihr Lächeln sollte beruhigend wirken, aber es hatte den gegenteiligen Effekt. Ihm wurde dadurch auf unangenehme Weise bewusst, dass sie ihn nicht ernst genug nahm. Würde sie die ganze Wahrheit kennen, hätte sie Todesangst.
»Ich habe dich nicht gefragt, ob ich mir Sorgen machen muss. Ich habe dich gefragt, ob du dich an unsere Vereinbarung erinnerst.« Die Härte in seiner Stimme ließ sie zurückweichen, die Augen groß und argwöhnisch. Er holte tief Luft und versuchte, einen sanfteren Ton anzuschlagen. »Du setzt nicht einen Fuß aus der Tür von diesem Laden, ohne mich darüber zu informieren. Verstanden?«
»Ja. Ich wünsche dir auch einen schönen Tag, Seth. Viel Spaß dabei, die Lagerhäuser zu inspizieren.« Sie lächelte ihn noch einmal über die Schulter an, dann verschwand sie durch die gläsernen Drehtüren des Bürohauses.
Er kämpfte das Verlangen nieder, ihr nachzulaufen, und lenkte sich damit ab, den Code ihres Peilsenders in den kleinen tragbaren Monitor einzugeben. Er spielte so lange daran herum, bis er alle Signale auf dem grünen Raster sah. Die sich verändernden Koordinaten wurden in Echtzeit aufgefangen und neben den blinkenden Punkten angezeigt. Dann wählte er McClouds Nummer.
Connor hob nach dem ersten Klingeln ab. »Ja?«
»Ich muss alles wissen, was du über einen Kerl namens Peter Marat herausfinden kannst«, erklärte Seth. »Lass ihn von Davy überprüfen. Er hat vor ungefähr siebzehn Jahren für Lazar gearbeitet, bis er auf mysteriöse Weise ertrunken ist.«
»Was hat er mit unserer Sache zu tun?«
»Er ist Raines Vater. Sie möchte beweisen, dass Lazar ihn umgelegt hat. Ein scheinbarer Segelbootunfall, als sie noch ein Kind war.«
Es folgte eine kurze Stille. »Die Sache wird langsam interessant«, bemerkte Connor in einem aufgesetzt geheimnisvollen Ton.
»Mach dich einfach dran. Einer von euch muss sie bewachen, während ich in Renton bin. Ich fahre jetzt dorthin. Sie ist im Büro, ich habe gestern fünf Peilsender an ihr platziert. Ich gebe dir die Codes. Hast du was zu schreiben?«
»Eine Sekunde. Ja. Schieß los.«
Seth las ihm die Codes vor. »Schnapp dir einen der Monitore und mach, dass du herkommst. Und zwar schnell. Ich möchte nicht, dass sie unbewacht ist. Sean soll sich heute Morgen an Lazar dranhängen.«
»Ja, klar. Zack, zack. Kein Problem. Weißt du, Seth, wenn das hier alles vorbei ist, müssen wir uns mal ernsthaft über deine Manieren unterhalten.«
»Nein, müssen wir nicht.«
Seth beendete das Gespräch und fädelte den Wagen wieder in den dichten Morgenverkehr ein. Ein Schaufensterdekorateur schmückte die Auslage eines Ladens für Thanksgiving, und Seth beobachtete ihn träge, während er an der Ampel auf Grün wartete. Ein aus Weide geflochtenes Füllhorn, aus dem Kürbisse und Maiskolben herausquollen, ein Truthahn aus Pappmaschee, Schaufensterpuppen in der Tracht der Pilgerväter. Sein Magen zog sich zusammen. Jesse war im Januar getötet worden. Die Winterferien ohne Jesse standen ihm bevor. Er war noch nicht bereit dafür. Nicht dass Feiertage ihnen viel bedeutet hätten, als sie noch Kinder gewesen waren, ganz im Gegenteil; aber sie hatten größere Bedeutung erlangt, als sie angefangen hatten, Zeit mit Hank zu verbringen. Für Hank waren
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