Die Nacht Hat Viele Augen -1-
ihr reagierte darauf, während sie zugleich entsetzt zurückschreckte. Sie durfte sich nicht mit ihm einlassen oder auch nur die geringste Zuneigung für ihn entwickeln. Nicht nach dem, was er getan hatte.
Verzweifelt suchte sie nach einem Weg, den Bann zu brechen. »Wo ist mein Vater begraben, Victor?«
»Ich habe mich schon gewundert, wann du das endlich fragen wirst. Er ist hier begraben.«
»Auf der Insel?« Sie war verblüfft.
»Er ist verbrannt worden. Ich habe seine Asche begraben und ein Denkmal für ihn errichtet«, sagte Victor. »Komm mit. Ich zeige es dir.«
Sie war völlig unvorbereitet darauf, in Victors Gegenwart an das Grab ihres Vaters zu treten, aber jetzt gab es kein Entkommen mehr. Nach Atem ringend folgte sie Victor den gewundenen, steinigen Pfad hinauf zur höchsten Stelle der Insel. Zwischen den vom Wind umtosten Felsen lag ein kleines verstecktes Tal. Es war ein samtig grünes Becken ohne jeden Baum. Ein hoher Obelisk aus schwarzem Marmor stand in der Mitte der Vertiefung auf einem Sockel.
Vollkommen identisch mit dem aus ihren Träumen.
Sie starrte auf den Obelisken und erwartete fast, dass aus den Worten, die in den glänzenden Stein gemeißelt waren, Blut austreten würde.
»Alles in Ordnung, Raine? Du bist plötzlich so blass.«
»Ich habe von diesem Ort geträumt.« Ihre Stimme klang erstickt.
Victors Augen leuchteten auf. »Dann hast du sie also auch?«
»Was?«
»Die Träume. Es ist eine besondere Eigenschaft der Lazars. Hat deine Mutter es dir gegenüber nie erwähnt?«
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Mutter hatte über ihre verrückten Albträume geschimpft, bis Raine gelernt hatte, sie nicht mehr zu erwähnen.
»Ich habe sie. Deine Großmutter hatte sie. Lebendige, immer wiederkehrende Träume, manchmal von zukünftigen Ereignissen, manchmal aus der Vergangenheit. Ich habe mich oft gefragt, ob ich es dir vererbt habe.«
»Du? Mir?«, fragte sie verblüfft.
»Natürlich, ich dir. Ich hätte gedacht, dass ein so kluges Mädchen wie du inzwischen längst von allein darauf gekommen ist.«
Er wartete geduldig, während sie ihn mit offenem Mund anstarrte. Schließlich fand sie ihre Stimme wieder. »Willst du damit sagen, dass du … dass meine Mutter …?«
»Deine Mutter hat viele Geheimnisse.«
Raine hatte das Gefühl, die Erde würde sich unter ihr auftun. »Du hast sie verführt?«
Victor schnaubte. »So würde ich es nicht unbedingt nennen. Denn das würde bedeuten, dass ich mich zumindest ein wenig hätte bemühen müssen.«
Raine war so fassungslos, dass ihr die beleidigenden Worte über ihre Mutter kaum auffielen. »Bist du sicher?«
Victor zuckte die Schultern. »Bei Alix kann man sich nie sicher sein, aber nach deinem Aussehen und deinen Träumen bist du mit Sicherheit entweder meine oder Peters Tochter. Und ich persönlich bin davon überzeugt, dass du meine bist. Ich spüre es.«
Meine. Das besitzergreifende Wort hallte durch ihren Kopf. »Wieso?«
Er machte eine ungeduldige Handbewegung. »Sie war eine schöne Frau«, sagte er leichthin. »Und ich wollte Peter eins auswischen, nehme ich an. Nicht dass es funktioniert hätte. Mein Bruder war weich. Ich habe ihn verwöhnt, hab all die Drecksarbeit für ihn erledigt. Es war ein Fehler. Ich dachte, er könnte mir meine Unschuld bewahren, und im Gegenzug würde ich ihm die hässlichen Seiten des Lebens ersparen. Aber es hat nicht geklappt. Er hat trotzdem danach gesucht. Und bei Alix hat er sie gefunden.«
Protestierend hob Raine die Hände. »Victor …«
»Er hätte jemanden gebraucht, der seine Sensibilität zu schätzen wusste.« In Victors Gesicht spiegelte sich alte aufgestaute Wut. »Kein geldgieriges Miststück, das für jeden Mann die Beine spreizte, der ihr überlegen war.«
»Es reicht!«, fuhr Raine ihn an.
Schockiert von ihrem Ton zuckte er zurück.
Sie zwang sich, in seine lodernden Augen zu sehen, entsetzt über ihre eigene Kühnheit. »Ich werde es nicht hinnehmen, dass du so über meine Mutter sprichst.«
Victor applaudierte leise. »Bravo, Katya. Wäre das ein Test gewesen, hättest du ihn gerade bestanden. Alix verdient so eine loyale Tochter überhaupt nicht.«
»Mein Name ist Raine. Bitte erwähne Alix niemals wieder.«
Victor musterte ihre abweisende Miene einen Moment prüfend. »Dieser Ort scheint dich aufzuregen«, sagte er. »Lass uns zurück ins Haus gehen.«
Sie folgte ihm den Pfad hinunter. Wieder und wieder dachte sie über seine unglaubliche Offenbarung nach, bis sich
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