Die Nacht Hat Viele Augen -1-
Verführung gefilmt, aber das wäre logistisch komplizierter gewesen, als es ihm wert war. Und außerdem zeugte so etwas von schlechtem Geschmack. Immerhin war das Mädchen seine Nichte. Ein wenig Privatsphäre würde er ihr zugestehen. Zumindest im Moment.
Mal ganz vom Unterhaltungswert abgesehen, kam ihm die Situation sehr gelegen. Er brauchte ein Druckmittel gegen den mysteriösen Mackey, bevor er mit einem so sensiblen Projekt fortfuhr, ganz besonders nach den unglücklichen Ereignissen vor zehn Monaten, die darin gegipfelt hatten, dass der verdeckt ermittelnde FBI -Agent Jesse Cahill ums Leben gekommen war. Er hatte es nur knapp geschafft, die Situation überhaupt wieder unter Kontrolle zu bekommen. Allerdings nicht rechtzeitig genug, um beträchtliche Peinlichkeiten für gewisse Kreise unter seinen Geschäftsfreunden zu vermeiden. Und Victor hasste Peinlichkeiten.
Besonders Kurt Novak hegte immer noch Groll gegen ihn – aber das Herz der Dunkelheit , das Crowe ihm gerade brachte, würde dieses Problem im Handumdrehen aus der Welt schaffen. Es war das letzte Detail eines Plans, mit dem Victor dafür sorgen würde, dass Novak sich wieder genau so verhielt, wie er es von ihm erwartete. Allein der Gedanke daran ließ ihn lächeln, während er zu den Wolkenfetzen hinaufsah, die vor dem Mond dahintrieben.
Die Glastüren hinter ihm wurden geöffnet, und die Assistentin räusperte sich. »Mr Crowe ist da«, meldete sie respektvoll.
Der Wind nahm zu. Böen wirbelten welkes Laub und Tannennadeln vor sich her, sodass sie sich in die Luft erhoben, über die Gehwegplatten tanzten wie spielende Poltergeister. Der perfekte Auftakt für die Transaktion, die gleich stattfinden würde. »Schicken Sie ihn raus«, befahl Victor.
Augenblicke später trat ein Schatten hinter seinen Stuhl. Crowe war nicht sein richtiger Name. Den kannte Victor nicht einmal, noch kannte er überhaupt jemanden, der ihn gewusst hätte. Crowe war einer jener Männer, mit denen man sich in Verbindung setzte, wenn man etwas sehr Kompliziertes, sehr Diskretes und außerordentlich Illegales arrangieren wollte, wie zum Beispiel den Diebstahl einer berüchtigten Mordwaffe. Er war der zuverlässigste Mann, den Victor jemals engagiert hatte – und der teuerste. Er trug einen unauffälligen, olivfarbenen Regenmantel, sein Gesicht lag im Schatten der breiten Krempe seines Hutes, und die Augen verbarg er selbst nach Sonnenuntergang hinter verspiegelten Gläsern. Das wenige, was von seinem Gesicht zu sehen war, wirkte kalt und kantig. Er stellte einen Metallkoffer neben Victors Stuhl, richtete sich wieder auf und wartete. Es war unnötig, die Echtheit des Gegenstands zu überprüfen, den er überbracht hatte. Sein Ruf reichte aus.
Die Schachfiguren in Victors Kopf nahmen eine neue Angriffsstellung ein. »Das Geld wird noch heute Nacht auf das übliche Konto überwiesen«, sagte er ruhig und überspielte seine Aufregung.
Crowes Schatten zog sich schweigend zurück. Victor griff nach dem Koffer und legte ihn sich auf die Knie. Das Herz der Dunkelheit. Er konnte es buchstäblich pulsieren fühlen, als wäre er Aladin, der den Geist in der Flasche in seinen Händen hielte. Ein erleuchteter Aladin, der sich mit Macht, Verlangen und Gewalt auskannte. Und Kurt Novak war sein Flaschengeist.
Er ließ die Schlösser des Koffers aufschnappen. Die Walther PPK befand sich immer noch in dem Beweissicherungsbeutel, in den man sie für die Kriminaltechnik gesteckt hatte, immer noch voller Fingerabdruckpulver. Ihr Wert war nicht in Dollar auszudrücken, denn ihr Preis beinhaltete auch, dass man ein Leben lang Druck ausüben und Gefälligkeiten einfordern konnte.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wurden eins. Das berühmte Gesicht der glücklosen Belinda Corazon erschien vor seinem geistigen Auge. Der kalte Klumpen Stahl auf seinem Schoß war für immer gefangen in einem endlosen Moment tödlicher Gewalt. Es brauchte einen Menschen wie ihn, gequält von drastischen Träumen und mit einem feinen Gespür für die Dynamik der Macht, um die Signatur der Waffe zu lesen.
Es war eine Last, einer von zwei Menschen auf der Welt zu sein, der die wahre Identität von Belinda Corazons Mörder kannte. Er spürte einen warnenden Stich von Melancholie und schloss den Koffer schnell, um ihm zu entgehen. Er hatte keinen Grund, sich schuldig zu fühlen, ermahnte er sich. Die Corazon war nur eine Bekannte gewesen, keine Freundin. Wie auch viele andere Prominente war sie zu Victors
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