Die Nacht Hat Viele Augen -1-
noch die Froschsonnenbrille trug. Wie blöd, natürlich war es dann dunkel, aber ohne die Brille konnte sie nicht gut genug sehen.
Ed war fast bei ihr, als er sie bemerkte. Seine Augen wurden so groß, dass sie das Weiße darin sehen konnte.
»Was hast du mit meinem Daddy gemacht?«, fragte sie.
Ed blieb der Mund offen stehen. Seine Hände zitterten. Sein ganzer Körper zitterte, aber es war nicht kalt.
»Was tust du hier draußen im Regen, Schätzchen?«
»Wo ist mein Daddy?«, fragte sie noch einmal lauter.
Ed starrte sie einen Moment an, dann hockte er sich vor sie hin. Er streckte die Hand aus. »Komm mit, Katie. Ich bringe dich zu deinem Daddy.«
Er lächelte sein aufgesetzt freundliches Lächeln, aber ein greller Blitz zeigte, wie sein Lächeln in Wirklichkeit war – entsetzlich. Es sah aus, als würden Schlangen aus seinen Augen und seinem Mund kommen. Wie in dem Horrorfilm, den sie mal im Fernsehen gesehen hatte, während die Erwachsenen feierten.
Es donnerte krachend. Sie schrie auf und sprang von ihm weg wie ein Rennpferd am Start. Sie war schnell, aber seine Beine waren lang. Er bekam sie an den Armen zu fassen, doch sie war glitschig wie ein Fisch. Sie entwand sich seinem Griff. Die Froschbrille flog weg, aber sie rannte und schrie …
Ein Klopfen ertönte, und sie setzte sich auf, der Schrei blieb ihr im Hals stecken. Wieder ein Klopfen – genauso höflich und leise wie jenes, das sie aus dem Albtraum gerissen hatte. Mit rasendem Herzen wickelte sie sich hastig in die Decke.
»Herein!«, rief sie zögernd.
Das Vorhängeschloss klapperte. Es war der dürre Mann mit der Krücke. Er trug ein Bündel Kleidungsstücke im Arm. Seth hatte ihn Connor genannt. Er musterte sie kühl.
»Guten Morgen«, sagte er.
»Sind Sie nicht mitgefahren?«
Sein Gesicht verhärtete sich. »Der Krüppel ist zum Babysitten eingeteilt.« Er deutete auf seine Krücke. »Ich bin auch nicht glücklich damit, also sprechen wir bitte nicht darüber.«
»Warum haben Sie mich nicht einfach eingeschlossen und sind mitgefahren?«, fragte sie. »Ich würde niemals aus diesem Zimmer herauskommen.«
»Stimmt. Mal abgesehen davon, dass Sie gestern Abend von zwei Auftragskillern angegriffen worden sind. Falls wir alle, was Gott verhüten möge, bei der Auseinandersetzung mit diesen Kerlen ins Gras beißen, würden Sie in dieser Kammer verdursten, bevor irgendjemand sie schreien hört. Wir haben nämlich keine Nachbarn.«
Sie schluckte hart und senkte den Blick.
»Ja, da kommt man ins Grübeln, was? Ich persönlich dachte, sie hätten ihre Entscheidung getroffen. Sie sollten es mal mit dem Rest von uns versuchen. Aber Seth wollte nicht auf mich hören.«
»Wollte er nicht?«
Connors Blick glitt über sie. »Nein«, wiederholte er. »Wollte er nicht.«
Er legte den Kleiderhaufen auf die Kommode. »Keiner von uns lebt ständig hier, deswegen haben wir nicht viel dabei. Ich habe ein paar alte Sachen von Sean ausgegraben. Keine Ahnung, ob die passen, aber sie dürften besser sein als Ihr Nachthemd.«
»Ja, ich bin sicher, das sind sie«, sagte sie dankbar.
»Kommen Sie nach unten, wenn Sie sich was angezogen haben, falls Sie möchten.«
»Sie werden mich nicht einschließen?«
Er stützte sich mit beiden Händen auf seine Krücke und betrachtete sie aus schmalen Augen. »Werden Sie irgendetwas Dummes versuchen?«
Sie schüttelte den Kopf. Trotz der Krücke hätte sie gegen diesen Mann keine Chance gehabt. Mit seinem harten, entschlossenen Ausdruck in den Augen war er fast so gefährlich wie Seth. Alle McClouds hatten diesen Eindruck auf sie gemacht.
»Vielen Dank für die Sachen«, sagte sie. »Ich bin gleich unten.«
Die Kleidungsstücke waren kunterbunt zusammengewürfelt und abgewetzt. Am besten erhalten war eine tief sitzende Jeans, die zwar eng um die Hüften war, aber Raine musste sie dreimal umkrempeln, bis ihre Füße zum Vorschein kamen. Sie war mit gemeinen asozialen Sprüchen vollgekritzelt. Das einzige Hemd, das nicht allzu viele Löcher hatte, war ein eingelaufenes, abgetragenes Megadeth-T-Shirt, dessen Halsausschnitt eingerissen war. Es reichte nicht mal ganz bis zu ihrem Bauchnabel und spannte sich eng um ihre Brüste.
Dann gab es noch ein Paar ehemals coole Turnschuhe, deren ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen war. Im Laufe der Jahre hatten sie sich verzogen und waren völlig ausgeblichen. Sie waren mehrere Zentimeter zu lang für sie, so labbrig wie Clownschuhe, und sie scheuerten schmerzhaft an
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