Die Nacht Hat Viele Augen -1-
nickte und lief die Treppe hinauf zu der Dachkammer. Dann schlich sie zum Fenster, von dem aus man auf das Dach der Veranda sah. Es gab keinen Vorhang. Wenn sie hinausspähte, konnte sie entdeckt werden, und das würde Connor ziemlich sauer machen. Um Himmels willen, der Mann war sein Kollege, sein Boss und sicher keine Bedrohung für sie.
Aber die blutunterlaufenen Augen und der leere, tote Blick des Killers aus dem Motel verfolgten sie. In den letzten fünf Tagen hatte sie gelernt, nichts als selbstverständlich hinzunehmen. Nicht aus dem Fenster zu sehen, würde bedeuten, etwas sehr viel Ernsteres zu riskieren als Connors Ärger.
Auf Zehenspitzen näherte sie sich dem Fenster und versuchte, sich im Schatten zu halten, aber der Mann stand zu nah an der Veranda. Sie musste dichter an die Scheibe heran. Die Fliegentür knallte zu. Connor begrüßte den Besucher. Seine Stimme klang nicht besonders freundlich, eher neutral. Fragend. Durch die Doppelverglasung des Fensters konnte sie nicht verstehen, was gesprochen wurde.
Der Mann antwortete, seine Stimme war noch tiefer als Connors Bariton. Eine Gänsehaut überlief sie. Sie presste ihre Stirn gegen die Scheibe. Wenn er jetzt hochblickte, würde er sie mit Sicherheit sehen. Von hier oben erkannte sie nur, dass sein Haar dünner wurde und dass er eine dicke schwarze Winterjacke anhatte. Er trug eine Brille. Connor stellte eine weitere unverständliche Frage. Der Besucher antwortete mit einem Schulterzucken.
Connor zögerte kurz, dann nickte er. Er fügte noch etwas hinzu, wahrscheinlich lud er den Besucher ins Haus ein, und drehte sich um.
Beinah hätte Raine einen sinnlosen Warnruf ausgestoßen, als der Mann blitzschnell ausholte. Dann zog er Connor auch schon den Knauf seiner Pistole über den Schädel. Connor brach ohne einen Laut zusammen. Der Mann kniete sich kurz neben ihn und fühlte seinen Puls. Dann stand er wieder auf, presste die Hand auf den Magen und blickte sich um.
Plötzlich hob er den Kopf, und sie sahen sich in die Augen. Er war der Mann, der ihr entgegengekommen war, als sie das Büro von Bill Haley verlassen hatte. Er war der Freund ihrer Mutter, Ed Riggs. Älter und schwerer und ohne den Schnurrbart, aber ein Irrtum war ausgeschlossen. Vor siebzehn Jahren hatte er versucht, sie umzubringen. Nun war er wieder da, um seine Tat zu vollenden.
Er verschwand unter dem Dach der Veranda. Schnell sah sie sich in dem kleinen Raum um und hatte das unangenehme Gefühl eines Déjà-vu. Gott, schon wieder war sie in einem Schlafzimmer gefangen und hatte keine Waffe. Die Lampe war nutzlos, ein zerbrechliches Gestell aus Bambus und einem Stoffbezug. Auf der Kommode stand die Whiskeyflasche. Sie griff nach ihr und hob sie hoch. Fast leer. Aber besser als gar nichts.
Sie würde ihn nicht besiegen können, indem sie ihm mit einer Flasche in der Hand hinter der Tür auflauerte, und es hatte auch keinen Sinn, sich in eine Ecke zu kauern und auf ihn zu warten. Das hatte sie bereits ausprobiert, und es war gehörig schiefgegangen. Außerdem würde ihr diesmal niemand zu Hilfe kommen. Seth war unterwegs und verfolgte die Corazon-Waffe. Connor lag draußen auf dem Kies und rührte sich nicht. Sie betete zu Gott, dass er nicht ernsthaft verletzt oder sogar tot war.
Sie war auf sich allein gestellt. Aber war das nicht eigentlich immer schon so gewesen?
Raine packte den Hals der Whiskeyflasche fester. Dann entdeckte sie das schwere, handtellergroße Vorhängeschloss und nahm es sich ebenfalls. Sie verbarg die Flasche hinter ihrem Bein, holte einmal stockend, aber tief Luft und ging zum Treppenabsatz. Sie hatte Todesangst, aber sie würde sich nichts anmerken lassen. Wer wusste schon besser als sie, wie man das machte? Ihr ganzes Leben lang hatte sie auf diesen Moment hin gelebt. Auf die große, die ultimative Täuschung.
Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, leise zu gehen. Sie stampfte vielmehr. So weit man in einem Paar labbriger Clownschuhe stampfen konnte.
»Hallo Ed.«
Riggs näherte sich der Treppe. Ihm blieb der Mund offen stehen.
Es war wie eine Szene aus einem billigen Comic. Das Mädchen oben an der Treppe und wie es auf ihn hinuntersah. Die Beine leicht gespreizt, die Brust vorgereckt, in diesen sexy Lumpen, die Haare zerzaust. Er begriff, warum Novak sie haben wollte. Selbst die Hämatome unter ihren Augen nahmen ihr nichts von ihrer Anziehungskraft. Sie sah aus wie ein abgedrehtes Model nach einer Kokainorgie, sexy und wild und völlig
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