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Die Nacht in Issy

Die Nacht in Issy

Titel: Die Nacht in Issy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Borell
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begriff überhaupt nicht, was Alexandre wollte. Ich hatte doch nicht geschossen!
    »Du mußt es doch wissen«, drängte Alexandre, »hast du vielleicht gemeint, es sei ein Keiler?«
    Einer der Treiber stellte sich zu uns.
    »Sie sind doch von dort her gekommen, Monsieur Jean?« fragte er und deutete in die Richtung, aus der ich tatsächlich gekommen war. Er und Alexandre blickten mich gespannt an.
    »Ja«, sagte ich erleichtert, »ich kam von dort. Und der Schuß — «
    »Dann war’s Ihr Schuß, Monsieur Jean«, sagte der Treiber bestimmt, »ich war nicht weit davon und hatte Angst, Sie könnten mich für Schwarzwild halten. Es war Ihr Schuß, Monsieur Jean.« Der Treiber hieß Carrel Patisse!
    So war das an jenem Morgen gewesen. Die Polizei war verständigt worden, und kurze Zeit später nahmen sie mich fest. Als sie mich abführten, drückte mir Alexandre traurig die Hand und sagte:
    »Kopf hoch, Jean! Es wird sich alles aufklären. Ich nehme für dich den besten Verteidiger von Paris!«

    Ich las die Anklageschrift weiter:
    »Die Anklage stützt sich in der Hauptsache auf folgende Punkte:
1. Unmittelbar nach der Tat erkannte der Angeklagte die Mordwaffe als ihm gehörend an. Sein späterer Versuch während der Verhandlung, dies zu leugnen, ist zu fadenscheinig, um dem Gericht glaubhaft zu sein. Auch lehnt das Gericht den Hinweis des Angeklagten ab, die Waffen könnten hinterher vertauscht worden sein. Vielmehr sieht das Gericht in diesem Verhalten den heimtückischen Versuch des Angeklagten, die Schuld von sich auf seinen Bruder abzuwälzen.
2. Die Vernehmung des Zeugen Carrel Patisse ergab eindeutig die Richtung, aus welcher der tödliche Schuß abgefeuert worden war. Bei einem Lokaltermin, an welchem der Angeklagte seinen eigenen Standpunkt darstellte, blieb der Zeuge Carrel Patisse bei seiner Aussage. Somit dürfte die Schußrichtung als genügend genau fixiert gelten. Eine Vereidigung des Zeugen unterblieb im Einverständnis mit der Verteidigung, da für den Zeugen keinerlei Grund zu einer falschen Aussage ersichtlich war.
3. Der Angeklagte bestritt zunächst jegliches Motiv. Durch die Ermittlungen des Gerichts ergab sich jedoch, daß er als Student ein recht flottes Leben führte und nicht unbeträchtliche Schulden hatte. Auf Befragen des Gerichts, ob der Vater des Angeklagten die Schulden gezahlt hätte, mußte der Angeklagte zugeben, daß es dieserhalb schon zu wiederholten Auseinandersetzungen zwischen ihm und seinem Vater gekommen sei. Diese hätten allerdings keinen emstlichen Charakter gehabt.
4. Zu diesem Punkt wurde der Bruder des Angeklagten, Alexandre B., als Zeuge vernommen. Er machte von seinem Recht Gebrauch, die Aussage zu verweigern.« —
    O Alexandre! Erst im Verlauf der Verhandlung wurde mir klar, was für ein Spiel du mit mir triebst — und da war es schon zu spät. O ja, du hattest den besten Verteidiger von Paris für mich genommen; aber der glaubte selbst an meine Schuld!
    Die Anklage lautete auf vorsätzlichen Mord.
    Die Verteidigung und das Plädoyer von Monsieur Marcel Meunier waren großartig gewesen. Es gelang ihm, das Gericht und die Geschworenen davon zu überzeugen, daß ich nicht vorsätzlich mordete, sondern im Affekt gehandelt hatte. Das Urteil lautete auf zwölf Jahre Zuchthaus wegen Totschlags im Affekt. —
    Ich legte die Akte behutsam aufs Bett und holte die Quittungen aus der Tasche. Alexandre hatte jeden Monat fünfhundert Francs an Carrel Patisse bezahlt! Es waren teilweise Quittungen mit Patisses Unterschrift, teilweise waren es Postscheckabschnitte.
    Da saß ich nun nach neun Jahren im Zimmer eines Straßenmädchens und hielt den Beweis meiner Unschuld in der Hand! Und wurde abermals gehetzt und verfolgt wegen eines Mordes, den ich nicht begangen hatte!

    Ich wachte erst auf, als Constance zu mir unter die Decke kroch. Sie roch nach billigem Parfüm, Rauch und Alkohol. Ich nahm sie in den Arm und streichelte sie.
    Um neun Uhr weckte sie mich. Sie hatte schon für ein Frühstück gesorgt; es stand auf dem Tisch, und sie brachte es mir ans Bett. Wir aßen, und plötzlich lachte sie.
    »Du, Jean, ich hab’ fürchterlich auf dich geschimpft.«
    »So — warum?«
    »Heute morgen in der Rue de la Harpe. Pierre war da und sprach von dir. Es war nicht nett, was er von dir sagte. Und Francois schimpfte auch. Ich dachte, es würde gut sein, wenn ich auch ein bißchen schimpfe.«
    »Sehr gut, Constance. Du bist ein kluges Mädchen.«
    Ihr Lachen verschwand. Eine Weile

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