Die Nacht in Issy
knabberte sie nachdenklich an ihrem Brötchen.
»Woran denkst du, Constance?«
Sie zögerte, dann sagte sie: »Es ist heute Sonntag.«
»Na und?« fragte ich. »Willst du in die Kirche gehen?«
Sie schüttelte den Kopf, dann fragte sie plötzlich:
»Hast du ihn wirklich erschossen?«
»Wen?« fragte ich.
»Alexandre Bouchard, deinen Bruder.«
»Nein, ich habe ihn nicht erschossen.«
»Es steht aber in der Zeitung, Jean.«
»Dann muß es unbedingt wahr sein«, bemerkte ich.
»Du sollst über so etwas nicht scherzen«, verwies sie mich, »hast du es getan?«
»Nein.«
»Pierre und Francois sagen es aber auch.«
»Klar«, antwortete ich, »weil sie selber mit drinstecken. Ich vermute sogar, daß Francois es war.«
»Und warum ist dann die Polizei hinter dir her?«
»Weil — weil es so aussieht, als ob ich’s gewesen wäre.«
»Aber wenn du es nicht warst, können sie dir doch nichts tun.«
»Sie haben Beweise — halt nein, keine Beweise, aber in ihren Augen sind es Beweise, daß ich es war. Ich muß den wirklichen Mörder finden.«
Sie ließ das halbe Brötchen liegen und fing an zu rauchen.
»Du lügst mich an«, sagte sie ganz ruhig, ohne mich anzublicken.
»Nein, ich sage die Wahrheit.«
»Und du lügst doch«, behauptete sie. Um ihren Mund lag der gleiche Zug, wie man ihn bei eigensinnigen Kindern findet. »Ich habe vorhin deinen Anzug sauber gemacht. Du hast unglaublich viel Geld in der Tasche.«
»Das habe ich Alexandre weggenommen, aber ich habe ihn nicht getötet.«
Sie machte eine Handbewegung und stand auf.
»Glaubst du mir nicht?« fragte ich.
»Nein«, sagte sie, »aber es ist egal. Du wirst wissen, warum du es getan hast. — Du solltest hierbleiben, man sucht dich doch.«
»Das kann ich nicht«, erwiderte ich, »ich muß doch den Mörder suchen.«
Sie schüttelte den Kopf, sagte aber nichts mehr.
»Übrigens«, fuhr ich fort, »kann ich jetzt auch wieder zu Gustave und Dedé zurück. Sie werden mir im Augenblick nichts tun.«
Sie schaute mich einen Augenblick ganz erstaunt an, dann kam sie und setzte sich auf meinen Schoß.
»Unsinn!« flüsterte sie. »Du bleibst bei mir. Ich glaube dir.«
»Gut«, sagte ich, »ich bleibe. — Wo könnte man heute einen großen Briefumschlag bekommen?«
»Wie groß?«
»So groß, daß diese Akten hineingehen.«
»Hm — «, machte sie, »ich will mal sehen. — Stehst du jetzt auf?«
»Ja.«
Sie ging, und als ich gerade aus dem Bett war, kam sie noch einmal herein.
»Die Nelken sind wunderbar«, sagte sie, »vielen Dank!« Und dann hörte ich draußen die Wohnungstür zuschlagen.
Ich ging ins Bad, wusch und rasierte mich mit einem Apparat, den ich im Bad fand, und als ich in Constances Zimmer zurückkam, hatte sie das Bett schon gemacht.
»Ist der groß genug?« fragte sie und deutete auf einen Umschlag, den sie inzwischen irgendwo aufgetrieben hatte.
Ich probierte es aus; die Akten und die Quittungen fanden gerade Platz darin.
»Ausgezeichnet, Constance! Hast du was zum Schreiben?«
Sie kramte einen Kugelschreiber aus ihrer Handtasche.
»Das da?«
»Ja, danke!«
Ich schrieb, ohne daß sie es sehen konnte:
»Mademoiselle
Constance Leclerc,
Paris, postlagernd.«
Sie streifte das buntgeblümte Kleidchen ab und zog eins aus schwarzer Seide mit einem weißen Spitzenkrägelchen an.
»Nanu«, machte ich, »so fein? Was hast du vor?«
Sie schaute mich ernsthaft an.
»Vielleicht gehe ich doch in die Kirche. Ich will beten, daß sie dich nicht erwischen.«
Ich war mit einem Satz bei ihr, riß sie in meine Arme und küßte sie lange.
Sie hatte das ganz natürlich gesagt, ohne Pathos. Ich glaubte in diesem Augenblick, sie zu lieben.
»Du gehst auch fort?« fragte sie.
»Ja.«
»Wann kommst du zurück? Soll ich Mittagessen machen?«
»Nein, lieber nicht. Ich weiß noch nicht, wann ich zurück sein kann.«
Ich nahm fünfhundert Francs aus der Tasche und gab ihr das Geld. Sie nahm es wortlos und steckte es in ihre Handtasche. Dann ging ich.
Zuerst ging ich zum nächsten Postamt, das am Sonntag geöffnet hatte.
»Ich möchte das hier aufgeben, postlagernd; es wird abgeholt. Wie lange bleibt sowas hier liegen?«
»Einen Monat«, sagte der Beamte.
»Das genügt«, sagte ich, und dann rief ich Germaine an.
»Hatten Sie inzwischen Besuch?« fragte ich sie als erstes.
»Nein«, antwortete sie, »noch nicht.«
»Das ist merkwürdig«, meinte ich, »sie müssen felsenfest davon überzeugt sein, daß ich es war. — Ich muß
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