Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
anders aussehen musste. Weil ich anders aussehen wollte.«
»Mir scheint, dass du wie ich aussehen wolltest.«
Ardeth war aufgesprungen, ehe sie sich dessen bewusstgeworden war, und die Wut trieb ihre Muskeln zum Handeln, während ihr Verstand noch unter dem kalten Kern der Wahrheit in Saras Worten wie erstarrt war. Irgendwie schaffte sie es, sich zu stoppen, fand die unsichtbare Mauer, die ihre Schwester aufgehalten hatte, und blieb davor stehen. Plötzlich fühlte sie sich in ihrem selbst geschaffenen Image fremd und linkisch – ein Kind, das man dabei ertappt hat, wie es in den Kleidern seiner Mutter vorgibt, erwachsen zu sein. Ihr Panzer aus Dunkelheit hatte zu bröckeln, zu verblassen begonnen, und sie spürte, wie die »alte« Ardeth sich ins Leben zurückdrängte.
Dann sah sie in das weiße Gesicht und die schreckerfüllten Augen ihrer Schwester und wusste, dass Sara keine Sprünge in ihrem Panzer sah. Dass sie nichts von Angst erfülltes Menschliches unter der Vampirmaske erkannte. Einen Augenblick lang durchflutete sie Triumph, spülte das alte Leben weg, das sich abmühte, sich aufs Neue in ihrem Herzen festzusetzen. Jetzt siehst du es, jetzt siehst du, was ich wirklich bin! Ganz und gar nicht das, was du geglaubt hast, oder, Schwesterchen? Du bist nicht zornig darüber, dass ich wie du aussehe – du bist zornig, weil ich besser aussehe als du. Und das ist etwas, was du nie für möglich gehalten hättest. Aber ihr Frohlocken dauerte nur einen Augenblick, dann fegte Saras erschütterter Gesichtsausdruck die Schadenfreude hinweg. Sie ist nicht der Feind, sagte sich Ardeth. Es ist jetzt völlig unwichtig, was du gewollt hast, und was sie einmal war. Was gibt es denn noch, worüber wir wetteifern könnten? Du existierst ja nicht einmal mehr in derselben Welt wie ich.
»Jetzt begreifst du es, nicht wahr?«, fragte sie leise, immer noch mitten im Zimmer stehend. Sara nickte langsam.
»Ardeth, was …?« Sie suchte tastend nach Worten, lachte dann nervös. »Herrgott, was sag ich denn? Dass es mir leidtut, dass du ein Vampir bist? Dass ich froh bin, dass du noch am Leben bist, auf gewisse Weise?«
»Das braucht dir nicht leidzutun, mir tut es auch nicht leid.« Ardeth setzte sich wieder auf ihr Bett, plötzlich war sie müde. Der Ansturm von Wut hatte Adrenalin in ihren Körper gepumpt. Jetzt, wo diese nachließ, erkannte sie, dass es den Hunger geweckt hatte. Sie nahm ihn als anhaltenden, nagenden Schmerz wahr – wie Kopfschmerzen, die darauf warteten, wieder einzusetzen. Beeil dich, Rossokow, dachte sie, an den fernen Rauch am Horizont ihres Wahrnehmungsvermögens gerichtet. Nur Gott weiß, was sie vorhaben, mir als Nahrung zu geben. Falls sie vorhaben, mir Nahrung zu geben. Sie blickte auf ihr Spiegelbild in dem falschen Spiegel und hatte plötzlich den schlimmen Verdacht, dass man Sara und sie vielleicht nicht nur deshalb zusammen hier untergebracht hatte, damit sie ihrer Schwester ihre Geschichte erzählte.
»Der Vampir«, begann Sara plötzlich, »der dich erschaffen hat. Wie hat er ausgesehen?«
»Graues Haar, graue Augen«, erwiderte Ardeth vorsichtig. »Schrecklich und wunderschön zugleich. Warum?«
»Eines Nachts, in deinem Apartment …« Sie hielt plötzlich inne, und ihre Augen huschten einen kurzen Moment lang zu der Kamera. Einen noch kürzeren Moment lang sah Ardeth Misstrauen in den Augen ihrer Schwester. Mag sein, dass sie jetzt an Vampirismus glaubt, aber alles hat sie noch nicht geschluckt, erkannte Ardeth. »Ich hatte einfach einen seltsamen Traum, sonst nichts.« Sie tat das Thema ebenso abrupt mit einem Achselzucken ab, wie sie es angeschnitten hatte. »Darf ich dich etwas fragen?«
»Nur zu.«
»Was ist aus Mickeys Freund Rick geworden? Er war Straßenmusiker. Mickey denkt, dass du ihn umgebracht hast.«
»Ich habe ihn nicht umgebracht. Er ist von einem Wagen erfasst worden. Ich habe sein Blut getrunken, aber nicht so viel, dass es ihn getötet hätte.« Ardeth lehnte sich ein wenig vor, um Saras unruhigen Blick zu suchen. Plötzlich sah sie sich gezwungen, die Wahrheit zu offenbaren, der entspannten Atmosphäre und der Komplizenschaft, die sonst vielleicht zwischen ihnen entstanden wäre, ein Ende zu bereiten. Ihr Tod hatte die Bande zwischen ihnen für immer durchschnitten – dieser verspätete Waffenstillstand war bestenfalls der Schatten einer Freundschaft, die es vielleicht einmal zwischen ihnen gegeben hatte. »Aber ich kann töten, Sara. Glaube nicht, dass ich immer
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