Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
Zähne.
»Ich werde nie von dem sprechen, was wir tun«, sagte sie ernsthaft. »Ich werde mich nicht beklagen, wenn du zu einer anderen gehst. Aber ich würde mich geehrt fühlen, wenn du zu mir kommen würdest. Ich wäre glücklich, wenn du zu mir kämest.« Dann küsste sie mich.
Sie war keine Schönheit, aber dennoch existierte Anmut in ihr, wie ich in jenem Augenblick und in tausend Augenblicken danach entdeckte. Ihr Mund war zu groß, aber er lächelte mit herzzerreißender Unschuld. Ihre Augen standen zu dicht beieinander, nahmen aber alles wahr. Ihr Gesicht war zu scharf geschnitten, aber darin lag Stärke unter der Schminke. Ihr Körper war zu üppig, zu kurvenreich, in seiner physischen Präsenz ebenso unbestreitbar wie Stein oder Holz. Aber selbst in ihrer Liebe für die schönen Dinge war Schönheit zu finden. Ihre Art, die Welt zu schätzen, war nicht die eines Dichters, sondern etwas viel Konkreteres. Sie konnte sich an Berührungen, Duft und Geräusch mehr entzücken als irgendjemand, den ich bisher gekannt hatte.
Nach konfuzianischem Gesetz war sie mein. Nach dem Samuraikodex war sie mein. Aber von dem Augenblick an, da sie mich geküsst hatte, im Wissen, was ich von ihr verlangte, gehörte ich ihr.
Wir waren eine Saison lang zusammen gewesen. Jetzt ließ ich sie, bewacht von einem Regiment Soldaten, in meinem Herrenhaus zurück.
In all den Jahren meines unnatürlichen Lebens hatte ich nie daran gedacht, ein anderes untotes Leben wie das meine zu erschaffen, um die Jahrhunderte miteinander zu teilen. Viele Jahre lang war ich nicht einmal sicher, wie es bewerkstelligt werden konnte. Aber jetzt steckte ich voller Pläne. Ich würde eine Weile warten, bevor ich mein Blut mit Tomoe teilte, weil sie noch sehr jung war. Es gab Dinge, die sie sich wünschen würde. Ein Kind beispielsweise, einen Erben, einen Sohn … etwas, von dem ich nie geträumt hatte, dass ich es möglicherweise haben würde … ja, mir auch nur wünschen würde. Ich konnte Tomoe kein Kind meiner eigenen Lenden geben, aber es würde sich irgendwie einrichten lassen. Wenn wir uns beeilten, könnte sie das Kind als sterbliche Frau großziehen, und dann könnten sich beide mir anschließen …
Ein plötzlicher Schrei, zuerst schrill, dann erstickend, ertönte. Dann kippte die Sänfte nach vorn. Ich kämpfte gegen ein Gewirr von Seide und Vorhängen an und stand dann im Freien, mein Schwert in der Hand. Ich fand mich inmitten einer Schlacht wieder. Pfeile zischten durch das Zwielicht. Meine Offiziere brüllten Befehle, die Schreie des sterbenden Trägers hallten nach, ehe sie in einem Gurgeln ertranken.
Hinter der Reihe von Soldaten, die meine Sänfte umgaben, konnte ich die Straßenräuber sehen, die uns angegriffen hatten. Sie mochten schmutzig und zerlumpt sein, aber ihre Schwerter sahen scharf aus. Und ihre Bogenschützen waren gut, erkannte ich, als ein Soldat zu meiner Linken einen Schrei ausstieß und mit einem Pfeil, der seine Kehle durchbohrt hatte, zu Boden sank. Ein anderer Mann trat an seine Stelle. Unsere Bogenschützen erwiderten das Feuer, zielten auf die dünne Reihe von Wegelagerern und in die Bäume hinter diesen, wo ihre Bogenschützen kauerten.
Es würde ein Zermürbungskampf werden, und derjenige, der es sich leisten konnte, die meisten Männer zu verlieren, würde den Triumph davontragen. Für sie würde es viel leichter sein, uns hier festzunageln, als für uns, sie zu vertreiben. Mein Leutnant stand plötzlich neben mir. »Nehmt mein Pferd, Baron Sadamori. Ihr und die anderen Reiter könnt diese Schlacht binnen Augenblicken hinter Euch lassen. Wir werden die Angreifer hier festhalten, während Ihr entkommt.«
Ich schüttelte automatisch den Kopf, und mein Blick fiel plötzlich auf eine Gestalt, die sich zwischen den Bäumen bewegte. »Noch nicht, Naomasa«, sagte ich und blickte weiter auf den Mann. Für die Augen eines Sterblichen mochte er verborgen sein, aber ich konnte ihn deutlich erkennen. Er trug das Gewand eines Straßenräubers, hatte aber den Gang eines Schwertkämpfers. Das war kein einfacher Soldat, der sich dem Diebeshandwerk ergeben hatte, kein verzweifelter Farmer, der den Reisanbau mit dem Straßenraub getauscht hatte. Er war ein Ronin , ein herrenloser Samurai.
Ich schwang mein Schwert hoch über meinem Kopf und erhob meine Stimme, so dass sie den Lärm der Schlacht übertönte. »Seid mir gegrüßt, Herr Straßenräuber. Weshalb kommt Ihr nicht aus den Schatten hervor und zeigt Euch?«
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