Die Nacht von Shyness
Kidds haben uns was gestohlen, und wir wollen es uns wiederholen.«
Super. Binde ruhig den erstbesten wildfremden Leuten unseren geheimen Plan auf die Nase.
Die Augen des Mädchens leuchten wie zwei Goldmünzen. »Cooool.«
Die Anführerin hingegen lässt sich nicht so leicht beeindrucken. »Wollt ihr da wirklich hin? Als ich euch gesehen hab, dachte ich nämlich sofort, die fahren garantiert zum Velo.«
»Zum Velo?«
Ich bin genauso verdutzt wie Wildgirl. Mit dem Blick folge ich dem Finger der Anführerin, weiter entlang am Fluss, hinter St. Judes.
»Wo die Räder sind. Und die Hunde.« Sie meint bestimmt die Radrennbahn, aber ich habe keine Ahnung, was die mit Hunden zu tun haben soll. Vielleicht haben da mal Windhundrennen stattgefunden. Ich will sie gerade fragen, was sie genau meint, als Wildgirl sich einmischt.
»Nee. Wir wollen nach Orphanville.«
»Was haben die Kidds euch denn geklaut?«
»Was Wichtiges.«
»Welche Einheit?«
Ich antworte an Wildgirls Stelle. »Die Sechs-Siebener.«
»Der Gnom?« Die Anführerin wirkt überrascht.
»Der ist vor einer knappen Viertelstunde noch hier lang gekommen«, wirft Augenklappe ein. »Die ganze Bande, auf dem Weg zum Stützpunkt. Sah so aus, als wär da was im Busch!«
Die Anführerin bringt sie zum Schweigen und denkt einen Moment nach, dabei zupft sie an dem fließenden weißen Stoff an ihrem Hals. Als sie wieder spricht, klingt es überhaupt nicht mehr albern. »Ihr müsst ihrenSchutzraum finden. Jedes Gebäude hat Schutzräume. Einen Raum für jede Einheit, die da wohnt. Die Kidds in jedem Gebäude müssen schwören, den Raum nicht zu verraten, aber irgendwas sickert immer durch.«
»Woher weißt du das?«, frage ich.
»Ich war auch mal bei den Kidds. Aber die Regeln haben mir nicht gepasst, deshalb bin ich ausgestiegen.«
Die Anführerin sieht mir direkt in die Augen. Gegen jede Vernunft glaube ich ihr. Hinter ihr hockt der Piratenjunge auf allen vieren, als ob er etwas im Dreck sucht.
»Was hat er?«
»Schiffsjunge Pete? Der redet nicht gern. Okay. Wir haben euch was gegeben. Jetzt seid ihr dran, den Zoll zu zahlen.«
»Wer sagt das?«
»Ich. Das sind die Regeln. Ihr habt die Brücke überquert, also zahlt ihr Zoll.«
»Klar. Wie viel?«
Ich hab ein bisschen Bargeld dabei. Man kann nie wissen, wer hier alles abkassiert. Besser, wir bringen das zu Ende, bevor noch irgendwer vorbeikommt und uns sieht. Zwei schwarz gekleidete Leute können unter dem Radar bleiben, wenn sie sich in Acht nehmen. Bei fünf Leuten, darunter drei auffällig gekleidete Piraten, sieht die Sache schon anders aus.
»Es kostet den schönen Preis von einem Kuss«, sagt die Anführerin.
»Niemals.«
Auf keinen Fall wage ich mich näher an sie ran als jetzt. Ich bin kein Experte in Sachen Piraten oder Trolle,aber ich schätze, Mundhygiene steht bei denen nicht so weit oben auf der Liste.
»Ich mein doch nicht dich, Dummerchen.« Sie wirft mir einen vernichtenden Blick zu und wendet sich an Wildgirl. Erst denke ich, die Anführerin hat ein nervöses Zucken, aber dann wird mir klar, dass sie versucht, mit den Wimpern zu klimpern. Das kann nicht ihr Ernst sein!
Ohne zu zögern tritt Wildgirl vor. »Kein Problem. Los geht’s, Piratenbraut!«
»Warte«, sagt plötzlich Schiffsjunge Pete. Er hockt am Boden und zeigt auf unsere Räder. Das Vorderrad von meinem Rad dreht sich immer noch träge. Ich sehe ihn genauer an. Die Stimme hab ich schon mal gehört.
»Nein!« Die Anführerin klingt unerbittlich. »Wir fahren kein Rad mehr, hast du das vergessen?«
»Verkaufen«, beharrt Pete und nagt an seiner Lippe. Ich starre ihn an und versuche dahinterzukommen, woher ich ihn kenne.
»An wen? An die Kidds?« Die Anführerin spuckt auf den Boden und wendet sich von Pete ab. Er geht wieder auf alle viere und fährt mit einer kreisenden Handbewegung über den Boden. Es dauert einen Moment, bis ich kapiere, dass er mit einer Phantasiebürste das Deck eines Phantasieschiffs schrubbt. Auf einmal klingelt es bei mir. Pete. Peter. Ich kenne den Jungen.
»Peter Kouros?«
Pete gibt keine Antwort. Er schrubbt weiter sein imaginäres Deck.
Peter Kouros war in der Schule eine Klasse unter mir. Ein netter Junge. Er war in fast allen Fächern derBeste, aber er gab nie damit an. Irgendwann, nachdem die Dunkelheit kam, als Paul und Thom und ich immer noch zur Schule gingen, ist er verschwunden. Paul kannte ihn besser als ich, sie haben in der Mittagspause immer zusammen Schach gespielt. Aber
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