Die Nacht von Shyness
glaube, es hat noch nie ein Mädchen freiwillig Zeit mit meinen Freunden verbracht. »Klar. Aber es ist noch lange nicht vorbei, oder?«
»Ich hab eine Idee.«
Wildgirl untersucht die Türen. Um die Griffe liegt eine dicke Kette mit Vorhängeschloss. Sie rasselt daran. Sofort gehen mehrere Augenpaare auf. Dutzende Äffchen bewegen sich unruhig, setzen sich, bewegen sich dann wieder.
Ich ahne, was Wildgirls großartige Idee ist. »Du willst doch nicht …«, setze ich an.
Sie dreht sich zu mir um. »Es ist nicht abgeschlossen! Die haben hier diese dicke fette Kette mit dem Schloss, und guck mal …« Sie rasselt wieder damit und ich erkenne, dass die Kette nur durch die Türen gesteckt ist und nicht durch den Riegel, mit dem sie verschlossen sind.
»Nein. Nein, das kannst du nicht bringen.«
»Und ob.«
»Dann wissen die Kidds doch, dass jemand sie rausgelassen hat. Und dann wissen sie auch, dass jemand in Orphanville ist.«
»Wenn die Äffchen abhauen, werden die Kidds so sehr damit beschäftigt sein, sie wieder einzufangen, dass sie sich über uns gar keine Gedanken machen. Außerdem … aah!«
Ein Äffchen springt durch das Gehege und knallt gegen die Türen, sodass seine Kulleraugen nur wenige Zentimeter von Wildgirls Gesicht entfernt sind. Sie stolpert rückwärts und landet auf dem Po.
Ich weiß nicht, ob ich lachen oder sie zur Ruhe mahnen soll. Sie schaut mich mit einem Blick an, der Farbe wegätzen könnte, aber auch sie erkennt das Lustige an der Situation.
»Hilfst du mir mal auf oder was?«
Ich ziehe sie hoch. Das Äffchen ist immer noch an die Tür gepresst. Sein Blick ist flehend, es umklammert den Draht. Weitere Äffchen springen hinunter und krabbeln zum Ausgang.
»Ich glaub, der will raus«, sagt Wildgirl. Das Äffchen legt den Kopf schief. »Siehst du? Armer kleiner Kerl.« Sie steckt den Finger hinein, spitzt die Lippen und macht Küssgeräusche. Wer hätte gedacht, dass sie ein Herz für Tiere hat? »Das ist abartig, was sie mit ihnen machen.«
»Willst du deinen Finger loswerden?«
Ich schlage ihre Hand weg.
Dutzende von Koboldäffchen kommen jetzt zum Ausgang und schauen Wildgirl schmachtend an. Sie versammeln sich an der vorderen Wand. Ich könnte schwören, dass einige ihre dürren Händchen flehend ausgestreckt haben.
»Wir müssen ihnen die Freiheit schenken.«
»Und was ist, wenn wir sie rauslassen und sie nicht abhauen, sondern uns angreifen?«
»Sieh sie doch an, eingepfercht und elend. Wir können sie nicht einfach hier eingesperrt lassen, wenn es so wenig Mühe kostet, sie freizulassen.«
Mit bedächtigen Bewegungen, als wollte sie, dass ich sie aufhalte, steckt sie die Hand durch das Gitter und schiebt den Riegel zurück. Die Äffchen machen Platz, damit sie die Tür nach innen öffnen kann.
Eine Sekunde lang ist es still, einen Herzschlag, dann stürmen die Äffchen in einem riesigen Fellknäuel zum Ausgang. Sie schießen durch den kleinen Spalt ins Freieund schwärmen in alle Richtungen aus, über den Parkplatz, die Wände des nächsten Gebäudes hinauf, zum Grenzzaun. Sie sehen aus wie Kugellager, die über das Landschaftsbild in Öl rollen.
»Lauft, ihr Kleinen!« Wildgirl klatscht in die Hände.
Ich ziehe sie weg. Wir könnten jetzt auch mal loslaufen.
Sobald wir bei Nummer sieben ankommen, zeigt sich, dass Wildgirl recht hatte. Das Gebäude sieht tatsächlich anders aus und ist mindestens zehn Jahre älter als die anderen Hochhäuser, die wir bis jetzt gesehen haben. Nummer sieben steht auf stämmigen Füßen in verblichenem Orange, der untere Teil ist ein Labyrinth aus Treppen und Geländer. Wie ein zum Leben erwachtes Bild von Escher. Die glatten Wände der anderen Häuser haben mir besser gefallen. Zwar boten sie weniger Verstecke, aber wenigstens konnten wir genau sehen, was vor uns lag.
Wildgirl scheint solche Bedenken nicht zu haben. Sie übernimmt die Führung und zieht mich mit einer Wollhand weiter. Sie hat die Daumen durch die Löcher im Ärmel des Pullovers gesteckt, so hat sie etwas Ähnliches wie Handschuhe. Dafür, dass sie eben noch vor Angst keinen Schritt weitergehen wollte, ist sie jetzt wieder ganz gut dabei. Das Hochhaus mit dem Feuer obendrauf muss ganz in der Nähe sein, Rauch liegt in der Luft.
Wir gehen eine kleine Treppe hoch und laufen dann links um das Gebäude herum. Die Hauswände bestehen aus zahllosen glitzernden Steinen in Beton. Das ist diefalsche Richtung, wir bewegen uns weg von Nummer sechs. Ich durchforste mein Hirn,
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